Europa und die Unruhen in Algerien
Andreas Klinger, Weserkurier, 20. Juni 2001
Nach knapp acht Wochen heftiger Unruhen mit Dutzenden von Toten und Tausenden von Verletzten ist die Rebellion der algerischen Berber zu einem wahren Volksaufstand gegen die Machthaber des Landes geworden. Trotz eines strikten Demonstrationsverbots protestieren die Jugendlichen immer wieder unter dem Motto « Mörder-Staat », « Keine Vergebung » und « Nein zur Diktatur ».
Die Polizei feuerte bei der jüngsten Massenkundgebung mit scharfer Munition. Mit vier Toten und mindestens 364 Verletzten war es das zweitgrößte Blutbad seit der Unabhängigkeit Algeriens. Das Massaker vom Donnerstag wurde nur übertroffen, als die Armee bei schweren Hungerunruhen im Jahr 1988 rund 500 Menschen erschoss.
Europa trägt mit Schuld an dieser Katastrophe. Denn es hat seit dem Militärputsch von 1992 nicht den geringsten Versuch unternommen, in dem Konflikt zu vermitteln. Im Gegenteil: Es hat die Putschisten durch Milliarden-Geschäfte und -Kredite gestützt. Die Europäer hielten die Militärherrschaft für ein geringeres Übel als eine islamistische Regierung.
Tatsächlich hat die Militärdiktatur Algeriens Probleme jedoch nur verschärft. Nach den jüngsten Unruhen scheint diese Erkenntnis endlich zu dämmern. 24 Intellektuelle aus ganz Europa veröffentlichten in der Madrider Zeitung El Pais ein Manifest, in dem es heißt: « Europa muss seine kriminelle Gleichgültigkeit endlich beenden. Denn Algeriens Machthaber sind für Entführungen, Folter und Exekutionen verantwortlich. »
An Druckmitteln, die Forderungen der Intellektuellen durchzusetzen, fehlt es der Europäischen Union nicht. Sie könnte darauf dringen, dass die Verantwortlichen für die Verbrechen vor ein Gericht der Vereinten Nationen entsprechend dem Haager Tribunal für Jugoslawien gestellt werden. Nachdem über 120 000 Menschen gestorben sind, könnte Europa einen Friedensdialog eröffnen und eine Demokratisierung Algeriens einleiten.
Geeignetes Druckmittel ist das seit 1995 geplante Freihandelsabkommen. Darin sind ausdrückliche Menschenrechts- und Demokratisierungsklauseln vorgesehen. Darauf muss Europa bestehen. Eine Regierung, die auf ihr eigenes Volk schießen lässt, verdient weder Verständnis noch ein großzügiges Vorzugsabkommen mit der Europäischen Union.