Große Opfer
Quelle: http://www.german-foreign-policy.com
ALGIER – Der deutsche Kanzler verlangt von der Bevölkerung Algeriens ,,große Opfer » zugunsten einer Öffnung der Wirtschaft des Landes für deutsche Unternehmen. Insbesondere in die algerische Energiebranche wolle Deutschland in größerem Maße einsteigen, erklärte Schröder bei einem Besuch in Algier. Damit berührt Berlin Energie-Interessen mehrerer europäischer Mittelmeer-Staaten, darunter Frankreich und Italien, die in hohem Maße von algerischen Erdgaslieferungen abhängig sind. Die Kanzler-Reise setzt langjährige deutsche Versuche fort, mit wirtschaftlichen Unterstützungsmaßnahmen und geheimdienstlichen Mitteln den Einfluss Frankreichs in seiner ehemaligen Kolonie zu schwächen.
Gegen die USA
Zu den Themen der Gespräche zwischen Schröder und dem algerischen Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika gehörte auch die engere Anbindung Algeriens an die EU. Die Regierung in Algier hat in den vergangenen Jahren ihre politischen Beziehungen zu Washington ausgebaut (,,Kampf gegen den internationalen Terrorismus ») und durch eine Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den USA unterfüttert. Demgegenüber setzte sich der deutsche Kanzler, der von rund 25 deutschen Wirtschaftsvertretern begleitet wurde (u.a. Siemens, MAN-Ferrostaal, Bilfinger Berger, Linde, Wintershall, RWE Dea), jetzt für die Vergabe lukrativer Aufträge an deutsche Unternehmen ein. In Aussicht stehen umfangreiche Infrastrukturvorhaben (Flughafenausbau, Autobahn, U-Bahn, Wasserversorgung). Im November wird Berlin eigens einen Koordinator für die deutsch-algerischen Wirtschaftsbeziehungen nach Algier entsenden.1) Für den Umbau der Wirtschaft Algeriens müsse die Bevölkerung des Landes ,,große Opfer » bringen, erklärte Schröder: ,,Denn ein solcher Transformationsprozess hat zwar viele Gewinner, aber eben auch Verlierer ».
Gegen Frankreich: …
Wie Schröder in Algier erklärte, wollen deutsche Unternehmen außerdem in größerem Maße in die algerische Energiebranche einsteigen. Algerisches Erdgas wird derzeit über Pipelines nach Italien und Spanien gepumpt, in den kommenden Jahren sollen weitere Rohrleitungen gelegt werden, um noch umfangreichere algerische Erdgaslieferungen zu ermöglichen. Von algerischen Energieressourcen sind vor allem Italien, Frankreich, Spanien und Portugal abhängig, zunehmender deutscher Einfluss auf die Branche würde daher die Interessen dieser Staaten, insbesondere der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, unmittelbar tangieren. Der deutsche Kanzler legte während seines Algerien-Aufenthalts einen Kranz am Ehrenmal für die Opfer des algerischen Unabhängigkeitskrieges gegen Frankreich nieder.2)
… Wirtschaft…
Die antifranzösische Algerien-Politik der deutschen Regierung reicht zurück bis in die Zeit vor der algerischen Unabhängigkeit am 5. Juli 1962. Zwischen 1950 und 1978 stand das Land in der Rangfolge bilateraler Nettoleistungen der BRD (inklusive privater kommerzieller Nettoleistungen) mit fast 4,2 Milliarden DM unter allen arabischen Staaten auf Platz 1, während es bei den deutschen Direktinvestitionen auf Platz 2 der arabischen Staaten rangierte.3) Ende der 1980er Jahre hatte die BRD in Algerien einen Wirtschaftseinfluss erreicht, der ihr einen Exportüberschuss von rund 2,5 Milliarden Euro sicherte. Die bürgerkriegsähnlichen Unruhen in Algerien während der 1990er Jahre haben die deutsche Wirtschaft stark zurückgeworfen, während zeitgleich ihre Position in Libyen aufgrund der Auseinandersetzungen zwischen Tripolis und Washington litt.4)
… und Geheimdienst
Die antifranzösische Algerien-Politik Deutschlands wird seit 1949 auch geheimdienstlich begleitet. Ehemalige NS-Agenten der Berliner ,,Abwehr » in Nordafrika stellten ihre dortigen V-Leute erst der ,,Organisation Gehlen », dann der neuen deutschen Auslandsspionage (BND) zur Verfügung. In der Folge arbeiteten BND und die algerische Nationalbewegung (FNL) unmittelbar zusammen. Die Kooperation betraf Waffenlieferungen und Terrorakte gegen französische Versorgungseinrichtungen in Nordafrika.
Bleiberecht
Während der Zeit wirtschaftlicher Einflussverluste Deutschlands in den 1980er bzw. 1990er Jahren intensivierte der deutsche Auslandsgeheimdienst BND seine Aktivitäten sowohl in Algerien als auch in Libyen. In Libyen bildete der BND die Präsidentengarde und libysche Geheimdienstler aus und vermittelte die Lieferung militärischer und nachrichtendienstlicher Technik an Tripolis, berichtet der Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom.5) In Algerien unterstützte der BND nach Angaben Schmidt-Eenbooms in den Jahren 1993 und 1994 hingegen die FIS, die einen Bürgerkrieg gegen die damalige Militärregierung führte.6) Der deutsche Geheimdienst ermöglichte die Lieferung von Waffen und Funkausrüstung an die Terrororganisation und bildete Aktivisten aus, während FIS-Exilpolitiker in Deutschland Bleiberecht erhielten.7) Ziel sei es gewesen, so Schmidt-Eenboom, nach einer Machtübernahme der islamistischen FIS das französische Wirtschaftsmonopol in Algerien zu beseitigen.
Diplomatische Kontakte
Wie das Auswärtige Amt heute schreibt, sind die politischen Beziehungen zwischen Algerien und Deutschland ,,traditionell gut und freundschaftlich »: ,,Auch in den 1990er-Jahren, als Algerien in beispielloser Weise vom islamistischen Terrorismus heimgesucht wurde, pflegte Deutschland seine diplomatischen Kontakte mit Algerien. »
1) s. auch Deutsche Wirtschaft: Offensive in Algerien
2) s. auch Traditionen und Traditionen (II)
3) Karl Kaiser, Udo Steinbach (Hg.): Deutsch-arabische Beziehungen. Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. Bonn, München/Wien 1981, S. 170ff
4) s. auch Eurafrika
5) ,,Deutsche Parlamentarier sind erfahrungsgemäß geschwätzig ». Erich Schmidt-Eenboom über Klaus Kinkel, ,,nasse Sachen » und die Lohnschreiber des BND; Berliner Zeitung 17.06.1995
6) ,,Die neuen Spione »; ARTE 14.12.1995
7) s. auch Deutsche Tschetschenen und Hauptsitz
Quellen:
Kreise: Libyen-/Algerien-Reise soll Öllieferbeziehungen stärken; www.vwd.de 14.10.2004
Schröder: Gute Basis für Erfolg der algerischen Reformen; reuters 16.10.2004
Schröder ruft zu verstärkten Reformen auf; www.sueddeutsche.de 16.10.2004
Kanzler wirbt in Algerien für mehr Handel; Freie Presse 17.10.2004