Algeriens Staatschef Abdelaziz Bouteflika wirft Frankreich « geistige Blindheit » vor

Eingeholt von der Vergangenheit

Algeriens Staatschef Abdelaziz Bouteflika wirft Frankreich « geistige Blindheit » vor

Danny Leder, Kurier, 31. Oktober 2005

« Geistige Blindheit » und « Völkermord-Leugnung » wirft Algeriens Staatschef Abdelaziz Bouteflika Frankreich vor. Der Anlass: Ein von der französischen Nationalversammlung verabschiedeter Gesetzes-Paragraf, der für den Geschichtsunterricht die « Anerkennung der positiven Rolle der französischen Präsenz in Übersee und namentlich in Nordafrika » vorschreibt.
Eigentlich war der Beschluss ein Versehen: Eine kleine Gruppe von Abgeordneten, die rechtslastigen Vertriebenenverbänden ehemaliger Algerien-Franzosen nahe stehen, brachte den Paragrafen als späte Ergänzung zu einem umfangreichen Entschädigungsgesetz für Algerien-Franzosen ein. Das Votum fand in einem fast leeren Parlament statt – die französischen Abgeordneten können sich bei einem Votum durch Fraktionskollegen vertreten lassen.

Inzwischen versicherte Unterrichtsminister Gilles de Robien, dass sich die Lehrer an diese Vorschrift nicht zu halten brauchen. Praktisch wäre das auch nicht durchsetzbar: Die Mehrheit der französischen Geschichtslehrer vertritt im Unterricht eine durchaus kritische Sicht des französischen Kolonialismus. Ihr Berufsverband reagierte empört auf das Diktat der Parlamentarier.

Angefacht

Der Parlamentsbeschluss hat aber jetzt erst recht die Debatte über die französische Kolonial-Vergangenheit angefacht. Gefordert wird diese nicht zuletzt von Jugendlichen aus nord- und schwarzafrikanischen Familien, die ihre gegenwärtige Benachteiligung in Frankreich als « Fortsetzung des Kolonialismus » empfinden.

Staatschef Jacques Chirac, der den fraglichen Gesetzes-Paragrafen inoffiziell als « Dummheit » bezeichnete, bringt der Parlamentsbeschluss in eine brenzlige Lage. Wegen des Entscheides wurde die Unterzeichnung eines Freundschaftsvertrags zwischen Paris und Algier, nach Vorbild der deutsch-französischen Nachkriegs-Versöhnung, schon mehrmals verschoben.
Chirac ist wegen seines Eintretens für die Palästinenser und seiner Ablehnung der US-Invasion im Irak in arabischen Ländern sehr populär. In Algier wurde er bei einem Besuch 2003 von hunderttausenden mit dem Ruf « Raisuna » (Unser Präsident) begrüßt und in einer Art bejubelt, die den Neid des Gastgebers Bouteflika weckte.

Nun tritt aber die Erinnerung an den siebenjährigen Krieg wieder in den Vordergrund, den Algerien zur Erlangung seiner Unabhängigkeit durchstehen musste. Als älteste und ausgesprochene Siedlerkolonie war Algerien eines der extremsten Beispiele der französischen Übersee-Expansion. Die Entkolonialisierung verlief besonders schmerzlich.
Nach einem ungemein grausamen Eroberungsfeldzug 1830, der Entrechtung der Einheimischen, der Vertreibung ihrer Eliten und mehreren niedergeschlagenen Revolten waren immer mehr Europäer ins Land gekommen. Diese blockierten alle Versuche der moslemischen Mehrheit, Gleichberechtigung zu gewähren. Vor der Unabhängigkeit 1962 lebte eine Million Franzosen in Algerien, das Land wurde als integraler Bestandteil Frankreichs verwaltet.

Die wirtschaftliche Entwicklung und das Schulwesen kamen ansatzweise auch einem Teil der neun Millionen Moslems zugute. Die politischen Bemühungen der Vertreter dieser Mehrheitsbevölkerung, zur Erlangung ihrer Souveränität, wurden aber solange abgewürgt, bis 1954 die bewaffnete Rebellion losbrach. Dem Terror der Aufständischen setzte die französische Armee Zwangsumsiedelungen, Folter und Massaker entgegen.

Soldat Chirac

Unter den zwei Millionen französischen Soldaten, die in Algerien Kriegsdienst leisteten, befand sich auch Chirac. Als 23-jähriger Unterleutnant glaubte er noch 1955 an den Verbleib eines reformierten Algeriens bei Frankreich und meldete sich freiwillig zum Fronteinsatz. Erst später, im Gefolge seines politischen Vorbilds General De Gaulle, schwenkte er auf die Unabhängigkeit Algeriens ein.

Seither fand Chirac zum Kapitel Algerien keine klaren Worte. Dabei hat sich Chirac anderwärtig als Tabubrecher profiliert: Im Gegensatz zu seinem sozialistischen Vorgänger Francois Mitterrand geißelte Chirac gleich nach seinem Amtsantritt 1995 in ungemein scharfer Weise die französische Beihilfe bei der Judenverfolgung während der Besetzung Frankreichs durch die Nazis.
Einiges deutet allerdings daraufhin, dass Chirac jetzt doch – im Einverständnis mit Bouteflika – an einer entsprechenden Erklärung zum Algerien-Krieg feilt.

Artikel vom 31.10.2005 |KURIER – Printausgabe |von Danny Leder aus Paris