« Mein Sohn stirbt jeden Tag, jeden Tag sterbe ich mit ihm »

« Mein Sohn stirbt jeden Tag, jeden Tag sterbe ich mit ihm »

Amar Yazid in Libération 5. Juni 1997, Übersetzung algeria-watch

Aldjia ist vor Sonnenaufgang aufgewacht, erschreckt von dem gleichen Alptraum, der sie seit Monaten heimsucht. Wieder muß sie sich mit Arbeit betäuben und unnütze Aufgaben erfinden, um nicht an den Abwesenden zu denken. Das Haus ist leer, obwohl es so voller Leben war. Der Jüngste ist zu Beginn der Zusammenstöße gestorben. Die Nachricht über seinen Tod war ihnen schnell übermittelt worden und sie konnten die Leiche holen und sie begraben. Sein Grab ist in Palestro, und zu den Festtagen geht Aldjia zur Andacht dort hin. Nach seinem Tod hat sie mit großer Mühe ihre beiden anderen Söhne behütet. Sie verlangte von ihnen zu Hause zu bleiben und verbat ihnen in die Moschee zu gehen. Dennoch wurde der Ältere zwei Jahre später festgenommen, und sie hat keine Nachricht über ihn. Sie ist wohl die Polizeiwachen abgelaufen, aber niemand hatte ihn gesehen, niemand hatte von ihm gehört. Man braucht sie nicht zu fragen, ob sie sich sicher ist, daß er von Sicherheitskräften inhaftiert wurde, sie antwortet knapp: « Ich weiß ». Sie hat unzählige Bemühungen angestrengt und allerlei Gerüchte erlitten, die ihn mal für tot, mal für lebend erklärten. Schließlich ist sie zum Observatorium für Menschenrechte gegangen, wo man sich damit begnügt hat, den Namen ihres Sohnes und das Datum seiner vermuteten Festnahme zu registrieren. Dann nichts mehr. « Es war schwer zu ertragen. Sie hörten uns kaum zu, als wenn wir Lügen erzählen würden ».

Warten. Zurück zu Hause war der Vater tagelang niedergeschlagen. Wochenlang hat er kein Wort gesprochen. Er blieb schweigend sitzen, sein Blick auf die Eingangstür gerichtet. « Als wenn er ein Wunder erwartete und unser Sohn, wie immer, die Tür öffnen und ein « Salamu Alaikum » rufen würde. Am Tag des Feste, ist er hinausgegangen, um sein Gebet zu verrichten und zurückgekehrt, um sich an dem selben Platz zu setzen. Vetter kamen uns besuchen und das Haus war wieder mit Menschen gefüllt… aber nicht mit unserem Sohn. Als sie gingen war er kreideweiß, wie der Tod. Er erhob sich, nahm seinen Gebetsteppich und verrichtete sein Gebet. Als er das Gebet beendet hatte, war er in Tränen aufgelöst. Er sagte mir: ‘Jetzt ist es soweit, ich habe das Gebet des Abwesenden verrichtet, für mich, ist er tot und begraben’. Als er dieses sagte, fühlte ich die Erde unter meinen Füßen wanken und ich nahm ihm übel, mich allein mit meinem Schmerz zu lassen ».

Nicht zu wissen. Aldjia hat einen Rechtsanwalt aufgesucht, der sie nicht beruhigen konnte, ihr dennoch empfahl, eine Anzeige zu erstatten, auch wenn dieses nicht viel Sinn machte. Das würde eine Spur hinterlassen… « Das härteste ist nicht zu wissen. Als der Erste starb, hat es geschmerzt, aber wenigstens wußte ich und konnte sagen ‘khlass’, es ist zu Ende. Aber bei dem Verschwundenen habe ich das Gefühl, daß er jeden Tag stirbt und jeden Tag sterbe ich mit ihm. » Sie hat den letzten Jungen, den sie noch hat, weit weg von Algier geschickt, zu Verwandten nach M’sila. Sie sieht ihn nicht mehr, aber sie weiß, daß er lebt. Die Ehefrau des Verschwundenen ist mit ihrer Tochter etwas mehr als ein Jahr in der Familie geblieben, aber dann hat sie das Warten nicht mehr ertragen und ist zurück zu ihren Eltern gegangen. « Das Haus ist leer wie mein Herz. Dennoch gebe ich nicht auf. Ich will wissen. Warum sagen sie uns nicht, was ihm passiert ist? Es ist unmenschlich… Manche haben mir erklärt, man müsse regelmäßig zum Rathaus, um sich eine Geburtsurkunde von ihm ausstellen zu lassen. »

So haben Leute erfahren, daß ihr Sohn gestorben war, weil man ihnen keine Geburtsurkunde ausgehändigt hat oder einen Totenschein mit einem Datum gegeben hat. Seit zwei Jahren geht Aldjia also alle zwei Monate zum Rathaus und beantragt die Geburtsurkunde und jedesmal fleht sie den Himmel an, daß man ihr keinen Totenschein aushändigt. Die Verwaltungsangestellten kennen sie und schauen sie jedesmal so an, als sei sie wahnsinnig: « Doch ich bin nicht verrückt, ich mache nur das, was ich kann. Eines Tages hat die Polizei das Viertel durchkämmt, sie sind zu uns gekommen, sie haben alles durchsucht. Ich habe ihnen gesagt, es sei niemand anwesend. Ein Polizist hat mich angeschaut und gesagt: ‘Na Du Alte, leidest Du? » Ich weiß nicht ob er scherzte oder ob er nett sein wollte, aber mir hat es nicht gefallen. Ich wollte ihm sagen, er solle tun, was er zu tun habe und schweigen, weil weder er noch ich verstehen, was uns geschieht. Aber ich habe nichts gesagt und er hat auch geschwiegen. »

Glauben. In drei Jahren hat Aldjia mehr als fünfzehn Kilo abgenommen. Heute hat sie nur noch Haut auf den Knochen. « Ich schlafe nicht mehr, weil ich meinen Kopf nicht frei machen kann. Eines Tages hat man mir gesagt, mein Sohn sei im Gefängnis von El-Harrach. Ich war vom Glück beflügelt… Aber als ich zum Gefängnis ging, haben sie mir gesagt, es gäbe niemanden mit diesem Namen. Ich habe sie als Lügner beschimpft und ich habe sie stundenlang gestört, aber ein Wärter, der meinem Sohn ähnlich sah und nett war, hat mich in eine Ecke gebracht. Er weinte und schwor mir, daß mein Sohn nicht bei ihnen sei. Ich glaube, ich habe das Bewußtsein verloren. Dann bin ich gegangen und bin in der Stadt umhergeirrt. Als ich nach Hause kam, war mein Mann verärgert und sagte: ‘Fürchte Gott, mach das Gebet des Abwesenden und warte, Du bist nicht die Einzige in dieser Situation.’ Aber das will ich nicht machen. Ich setze Vertrauen in Gott, aber ich will von all dem nichts wissen. Ich will glauben, daß er immer noch am Leben ist. Es sind schon mehr als zwei Jahre, aber ich will nicht, daß mein Glaube schwächer wird, denn sonst wird mein Herz sich mit Haß gegen alles füllen… »

In dem leeren Haus erfindet Aldjia Arbeiten, um nicht zu denken und vor allem nicht aufzugeben und das Gebet des Abwesenden zu verrichten. In wenigen Tagen wird sie zum Rathaus gehen und sich eine neue Geburtsurkunde ausstellen lassen.

 

 

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