« Die grundlegenden Rechte der Opfer können nicht einfach außer Kraft gesetzt werden, weil sie unbequem sind »
Interview mit Uta Simon, Mitarbeiterin in der Nordafrika-Abteilung im Internationalen Sekretariat von Amnesty International, London.
Algeria-Watch, Juli 2005 *
AI hat gerade eine Mission in Algerien durchgeführt. Wie erklären Sie Sich, dass es immer schwierig ist einzureisen, obwohl die Mainstream-Presse und Politiker in Algerien und Europa gerne von einer Normalisierung der Situation in Algerien seit 2000 sprechen?
Obwohl es im allgemeinen wenig bekannt ist, ist Algerien für ausländische Beobachter, wie zum Beispiel Journalisten und Menschenrechtsorganisationen, nach wie vor nicht frei zugänglich. Vielmehr erlaubt die Visumspflicht den Behörden zu reglementieren, welche internationalen Beobachter sich zu welchem Zeitpunkt in Algerien aufhalten. Seit dem Jahr 2000, in dem Amnesty International zwei Delegationsreisen nach Algerien durchführen konnte, haben wir nur zwei Mal Zugang zum Land bekommen: im Februar/März 2003 und jetzt im Mai 2005. Um unsere Visa für den Aufenthalt im Mai zu erhalten, haben wir eineinhalb Jahre auf die Zustimmung der algerischen Behörden warten müssen.
Es ist richtig, dass sich die Lage in Algerien seit 2000 stetig verbessert hat. So gibt es zunehmend weniger Berichte über aktuelle schwere Menschenrechtsverletzungen, wie die Tötung von Zivilisten oder das Verschwindenlassen. Im gleichen Zeitraum sind aber bei der Aufklärung vergangener Verbrechen kaum Fortschritte gemacht worden. Auch hinsichtlich des Zugangs für unabhängige Beobachter können wir in diesem Zeitraum keine Verbesserung feststellen. Beispielsweise haben die Experten der Vereinten Nationen, etwa zu den Themen Folter, außergerichtliche Erschießungen oder Verschwindenlassen, trotz regelmäßiger Anfragen immer noch keine Einladung der algerischen Regierung erhalten und sind somit in ihrer Arbeit behindert.
Welche Aufgaben, hat sich AI für diese Mission gestellt ? Hat AI die Personen, die sie sprechen wollte, treffen können ?
Ein wichtiges Thema dieser Delegationsreise war die von Präsident Bouteflika geplante Generalamnestie. Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass mit dieser Maßnahme Verbrechen gegen die Menschlichkeit amnestiert werden sollen, ohne dass deren Hintergründe aufgeklärt worden wären. Wir befürchten, dass eine Generalamnestie die längst überfälligen unabhängigen Untersuchungen dieser Verbrechen weiter verhindern wird.
Ein weiterer Schwerpunkt unserer Mission war das Thema Gewalt gegen Frauen. Im Rahmen einer internationalen Kampagne zu diesem Thema hat Amnesty International bereits im Januar einen ersten Bericht über Gewalt gegen Frauen in Algerien veröffentlicht. Wir haben unsere Erkenntnisse während der Delegationsreise vertiefen können und mit Aktivistinnen und Frauenorganisationen darüber gesprochen, wie wir in der Fortsetzung des Projekts ihre Arbeit am besten unterstützen können. Unsere besondere Aufmerksamkeit galt der Diskriminierung durch das Familiengesetz und den gender-spezifischen Folgen des Konflikts.
Weitere Schwerpunkte waren einerseits das Thema Folter, und zum anderen die Einschränkung der öffentlichen Freiheiten.
Während unseres Aufenthalts haben wir keine direkte Einschränkung unserer Arbeit erfahren. Allerdings befürchten viele Algerierinnen und Algerier immer noch Repressalien, wenn sie sich an internationale Beobachter wenden. Zum Beispiel kam es auch diesmal vor, dass Menschen, die sich an uns gewandt haben, anschließend von Sicherheitskräften verhört wurden. Daher ziehen manche es vor, den Kontakt mit Amnesty International zu meiden.
Welche offiziellen Vertreter der Regierung hat AI getroffen, wie können ihre Antworten auf Menschenrechtsfragen und das Funktionieren der Justiz charakterisiert werden?
Amnesty International hat Vertreterinnen und Vertreter des Justizministeriums, des Ministeriums für Familienangelegenheiten und die Situation der Frau, sowie der offiziellen Menschenrechtskommission, der Commission nationale consultative de promotion et de protection des droits de l’Homme (CNCPPDH), getroffen. Anfragen beim Innen- und Verteidigungsministerium sind ohne Antwort geblieben. Die Delegation hat mit den verschiedenen Behörden eine Reihe von Fragen zu den Kernthemen unserer Mission erörtert. Im allgemeinen waren die Regierungsvertreter und -vertreterinnen im Hinblick auf die Situation der Frauen eher dialogbereit, während es schwieriger war, auf Fragen im Zusammenhang mit aktuellen Verhaftungs- und Verhörmethoden konkrete Antworten zu erhalten. Diejenigen Fragen, auf die Amnesty International seit dem Jahr 2000 keine Antwort erhalten hat, sind auch während dieser Mission unbeantwortet geblieben. Dazu zählen insbesondere das Scheitern der Justiz bei der Aufklärung schwerer Menschenrechtsverletzungen seit Beginn der 90er Jahre – wie die Ermordung tausender Zivilisten in noch ungeklärten Umständen oder das Verschwindenlassen weiterer tausender durch die Sicherheitskräfte – oder die willkürliche Anwendung der Straffreiheit für Mitglieder bewaffneter Gruppen.
Eine wichtige Frage betrifft das Verschwindenlassen und die fehlende Aufklärung über das Schicksal Tausender „Verschwundener“. Präsident Bouteflika hatte eine Ad-hoc-Kommission ernannt, um diese Frage zu erörtern. Ende März hat der Vorsitzende Farouk Ksentini dem Präsidenten seinen Bericht übermittelt. Sie haben die Gelegenheit gehabt, Farouk Ksentini zu treffen. Welche sind die Schlussfolgerungen seiner Ermittlungen? Was empfiehlt AI in dieser Frage?
Die Ad-hoc-Kommission unter Vorsitz von Farouk Ksentini hatte ein eingeschränktes Mandat von 18 Monaten, um dem Präsidenten Vorschläge für eine Lösung des Problems der „Verschwundenen“ zu unterbreiten. Bisher ist der dem Präsidenten vorgelegte Bericht nicht öffentlich zugänglich und über die Arbeit der Kommission wenig bekannt. Nach Presseberichten lassen sich die Schlussfolgerungen und Empfehlungen der Kommission in drei Punkten zusammenfassen: Tausende von Menschen sind in der Folge von Verhaftungen in den 90er Jahren „verschwunden” und möglicherweise von den Sicherheitskräften getötet worden; die verantwortlichen Sicherheitskräfte sollen nicht vor Gericht gestellt werden, sondern von der geplanten Generalamnestie profitieren; die Angehörigen der „Verschwundenen“ sollen Entschädigungszahlungen von Seiten des Staates erhalten.
Ausgehend von Informationen, die den Behörden seit Jahren vorliegen, hat die Kommission Ende März verlauten lassen, dass 6.146 Personen in der Folge von Verhaftungen durch die Sicherheitskräfte „verschwunden“ sind. Diese Aussage hat vor allem symbolische Bedeutung, da es die erste offizielle Anerkennung ist, dass Sicherheitskräfte in erheblichem Ausmaß für gravierende Menschenrechtsverletzungen, die in den 90er Jahren verübt wurden, verantwortlich sind. Grundlage für die von der Kommission genannte Zahl waren die Hilfegesuche, die Familienangehörige seit über zehn Jahren auf der verzweifelten Suche nach ihren Angehörigen an die offizielle Menschenrechtskommission und andere staatliche Stellen schicken. Wie nah diese Zahl der tatsächlichen Anzahl der „Verschwundenen” in Algerien kommt, ist noch unklar.
Von zentraler Bedeutung ist, dass die Kommission weder beauftragt noch bemächtigt war, Einzelfälle von Verschwindenlassen zu untersuchen. Insofern besitzt dieses Ergebnis keine rechtliche Gültigkeit. Dies ist uns im Justizministerium bestätigt worden, wo die Kompetenz für rechtskräftige Untersuchungen der algerischen Justiz zugesprochen wird. Allerdings haben die von Verwandten angestrengten Verfahren nach unserer Kenntnis in bisher keinem Fall die Verantwortlichkeit eines Mitglieds der Sicherheitskräfte etabliert. Denn häufig sind die Verfahren, angeblich aus Mangel an Beweisen, eingestellt worden oder stocken seit Jahren. Dabei ist Amnesty International bisher kein Fall bekannt, in dem Familienangehörige auf diesem Wege überprüfbare Informationen über das Schicksal eines „Verschwundenen” erhalten hätten.
Nach jahrelanger Suche sind die Familien durch die Ergebnisse der Kommission dem Schicksal ihrer „verschwundenen“ Angehörigen keinen Schritt näher gekommen. Sie leben weiterhin mit der Ungewissheit darüber, ob ihre Angehörigen tot oder lebendig sind. Je mehr Zeit vergeht, desto stärker wächst die Furcht der Familien, dass die „Verschwundenen“ nicht mehr lebend gefunden werden. Amnesty International drängt deswegen auf unabhängige Untersuchungen, die das Schicksal der „Verschwundenen“ aufklären müssen. Algerien ist durch internationale Verträge dazu verpflichtet, Fälle von Verschwindenlassen aufzuklären und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Internationale Menschenrechtsstandards verpflichten den algerischen Staat auch dazu, die Opfer zu entschädigen. Doch Entschädigungen können die längst überfälligen Untersuchungen nicht ersetzen.
Die aktuellen Pläne für eine Generalamnestie stehen im Widerspruch zu internationalen Menschenrechtsstandards. Anstatt die Verantwortlichen von der Strafverfolgung auszuschließen, sollte die Regierung dringend ernsthafte Schritte unternehmen, die zur Aufklärung dieser Verbrechen führen. Zusätzlich sollte eine Einladung an relevante Experten der Vereinten Nationen ausgesprochen werden, insbesondere an die Arbeitsgruppe unfreiwilliges oder gewaltsames Verschwindenlassen, die sich seit dem Jahr 2000 erfolglos um Zugang zu Algerien bemüht.
Die anhaltende Ungewissheit über das Schicksal der „Verschwundenen“ hat für die Angehörigen schwer wiegende psychische und physische Folgen, die auch als eine Form der Folter beschrieben werden können. Frauen sind von dem „Verschwinden“ männlicher Familienangehöriger in besonderer Weise betroffen, da sie in der Folge oft wirtschaftliche Not leiden und einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt sind – als Familien von „Verschwundenen“ und als Frauen, deren gesellschaftlicher Status in der Regel an männliche Verwandte gebunden ist. Die meisten dieser Frauen haben keinen Zugang zu staatlicher Unterstützung, weil sie über den Verbleib ihrer Ehemänner oder männlichen Verwandten keinen Nachweis erbringen können. Konkrete rechtliche und praktische Maßnahmen durch die Behörden könnten die Lebenssituation dieser Frauen entscheidend verbessern.
Hatten Sie den Eindruck, dass die algerischen Behörden Mühe aufbringen, das Schicksal der von bewaffneten Gruppen entführten Personen aufzuklären? Unter welchen Bedingungen erhalten die Hinterbliebenen staatliche Hilfen?
Bei der Aufklärung der Verbrechen, die seit Beginn des Konflikts von bewaffneten Gruppen verübt worden sind, hat es in den letzten Jahren nahezu keine Fortschritte gegeben. Tausende von Menschen sind von bewaffneten Gruppen entführt und ermordet worden. Tatsache ist, dass die meisten dieser Verbrechen bis heute nicht aufgeklärt sind und die Täter nicht vor Gericht gestellt wurden. Immer wieder hören wir von Familien von Entführungsopfern, dass Informationen über das Schicksal der Opfer, wie etwa die Aussagen von Mitgliedern bewaffneter Gruppen, nicht genutzt werden, um die Toten zu finden. Den Familien geht es vor allem darum, dass die Opfer identifiziert werden, um in Würde begraben zu werden. Leider wird ihnen das zumeist nicht ermöglicht, da Tote in neu entdeckten Massengräbern in der Regel nicht identifiziert werden.
Opfer von Gewalt bewaffneter Gruppen und ihre Angehörigen haben, im Gegensatz zu Opfern staatlicher Gewalt, einen Anspruch auf staatliche Entschädigungszahlungen. Angehörige der Opfer von Entführungen müssen dazu die Entführung innerhalb kürzester Zeit den Sicherheitskräften gemeldet haben. Wir haben während unseres Besuchs in Algerien aber zum Beispiel Familien getroffen, die sich – sei es aus Furcht oder aus Unkenntnis – nicht in der unmittelbaren Folge einer Entführung an die Sicherheitskräfte gewandt haben. Diese Angehörigen haben keine Entschädigungen erhalten und können heute keinen Nachweis über den Verbleib der entführten Person erbringen. Insbesondere Frauen können somit ähnliche Schwierigkeiten erfahren wie etwa die Angehörigen der „Verschwundenen“.
Hatten Sie die Gelegenheit über das Ausmaß der Vergewaltigungen von Frauen von Seiten bewaffneter Gruppen und Sicherheitskräften Informationen zu erhalten? Wissen Sie ob diese Frauen von staatlichen Institutionen betreut werden, was geschieht mit den aus diesen Vergewaltigungen gezeugten Kindern?
Es ist heute nahezu unmöglich, Informationen darüber zu erhalten, wie viele Frauen während des Konflikts vergewaltigt worden sind und wie viele dieser Vergewaltigungen zur Geburt von Kindern geführt haben. Das hängt zum Teil damit zusammen, dass Vergewaltigungsopfer nicht angemessen versorgt und betreut wurden. Betroffene Frauen und Mädchen wurden in vielen Fällen sich selbst überlassen, da sie weder in ihrem gesellschaftlichen Umfeld noch durch den Staat unterstützt wurden. Es gibt zwar sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Frauenhäuser, aber deren Kapazität ist gering.
Es muss davon ausgegangen werden, dass viele Vergewaltigungen gar nicht erst aktenkundig geworden sind. Amnesty International hat die Behörden wiederholt nach der Zahl der von bewaffneten Gruppen verübten Vergewaltigungen gefragt, da diese durch die Sicherheitskräfte dokumentiert worden sein müssten. Leider liegen uns hier aber nur bruchstückhafte Statistiken vor, die das Ausmaß des Problems nicht erfassen. Auch auf unsere Frage, wie viele Mitglieder bewaffneter Gruppen vor Gericht der Vergewaltigung für schuldig befunden worden sind, hat es bisher keine Antwort gegeben. Für den Schutz der Opfer und die Wahrung ihrer Rechte ist auch im Fall von Vergewaltigungen wenig getan worden.
Frauenorganisationen in Algerien weisen darauf hin, dass dieses Problem auch außerhalb des bewaffneten Konflikts besteht, wie beispielsweise die Übergriffe im Sommer 2001 auf dutzende von Frauen in Hassi Messaoud, im Süden Algeriens, gezeigt haben. Die Mehrheit der Täter ist nach wie vor auf freiem Fuß, während sich die Frauen in anderen Landesteilen vor ihnen verstecken.
Auffällig ist in den letzten Jahren die massive Repression gegen protestierende Jugendliche, Menschenrechtler, Gewerkschafter und Journalisten. Haben Sie mit offiziellen Vertretern darüber sprechen können?
Wir haben gegenüber Vertretern der Regierung unserer Besorgnis über anhaltende und zum Teil zunehmende Einschränkungen von Presse-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit Ausdruck verliehen. Aus unserer Sicht sind diese Freiheiten von elementarer Bedeutung für die Bewältigung der Vergangenheit und die Schaffung einer Zukunft, in der die Menschenrechte garantiert sind. Anstatt einer Wahrung der öffentlichen Freiheiten stellen wir aber fest, dass Journalisten von Gefängnisstrafen und schweren Geldstrafen bedroht sind, dass für Demonstrationen meist keine Genehmigung erteilt wird und dass zivilgesellschaftliche Organisationen immer wieder in ihren Handlungsspielräumen beschnitten werden. Ein Beispiel sind Organisationen der Familien von „Verschwundenen », von denen keine einzige bisher legalen Status hat. Auf diese Weise wird die Beteiligung gerade derjeniger an der gegenwärtigen öffentlichen Debatte eingeschränkt, die von den Folgen einer Generalamnestie in erster Linie betroffen sein werden.
Im Jahr 2000 wurde das Gesetz der „zivilen Eintracht » erlassen. Viele sahen darin eine Form der Amnestie. Dieses Gesetz sah Strafminderung oder -erlass für Mitglieder von bewaffneten Gruppen vor, die sich in einem festgelegten Zeitraum den Behörden stellten. Darüber hinaus sollten die Mitglieder der Gruppen, die einen Waffenstillstand seit 1997 einhielten, insbesondere die Armée islamique du salut (AIS), der bewaffnete Arm der Front islamique du salut (FIS), von strafrechtlichen Verfolgung verschont werden. Weder die genaue Umsetzung dieses Gesetzes noch die Zahl derjenigen, die davon betroffen wurden, sind bekannt. Hatten Sie Gelegenheit mit Regierungsvertretern oder anderen gut informierten Personen darüber zu sprechen und haben Sie neue Erkenntnisse gewonnen?
Mit dem Amnestiegesetz von 2000 ist den Mitgliedern bestimmter bewaffneter Gruppen Straffreiheit garantiert worden, ohne dass untersucht worden wäre, ob sie schwere Verbrechen, wie die Ermordung von Zivilisten, zu verantworten hätten. Etwa 1000 Personen sollen von dieser Maßnahme profitiert haben. Diese sind von der Strafverfolgung ausgeschlossen, unabhängig davon, welche Beweise zum gegebenen Zeitpunkt gegen sie vorlagen oder in der Zukunft noch erbracht werden. Das Gesetz sah vor, dass eine Liste der Namen der von der Strafverfolgung ausgenommenen Personen veröffentlicht wird, aber das ist bis heute nicht geschehen.
Eine weitere Maßnahme war das Gesetz der „zivilen Eintracht“, das Straffreiheit oder Strafminderung für Mitglieder aller bewaffneter Gruppen ermöglichte, wenn sie in einem festgelegten Zeitraum die Waffen niederlegten. Laut Gesetz sollten nur solche Personen straffrei ausgehen, die keine Vergewaltigungen, Morde und andere schwere Verbrechen begangen hatten – diesen sollte ausschließlich die Möglichkeit der Strafminderung im Anschluss an gerichtliche Verfahren offen stehen.
Mehrere Tausend Mitglieder bewaffneter Gruppen sollen sich im Rahmen des Gesetzes freiwillig gestellt haben, doch offizielle Zahlen haben die Behörden auch hier nicht veröffentlicht. Noch schwerer wiegt es, dass das Gesetz nur selektiv angewandt worden ist: Amnesty International hat bis heute keinerlei Informationen darüber erhalten können, dass die etwaige Beteiligung der betreffenden Personen an schweren Verbrechen tatsächlich überprüft worden wäre. Insofern haben Mitglieder bewaffneter Gruppen auch durch dieses Gesetz de facto von Straffreiheit profitiert, selbst wenn sie beispielsweise an der Ermordung von Zivilisten beteiligt waren. Wir haben auch Anzeichen dafür, dass Mitglieder bewaffneter Gruppen, die sich den Behörden stellen, bis heute straffrei ausgehen, obwohl das Gesetz der „zivilen Eintracht“ im Januar 2000 ausgelaufen ist.
Amnesty International fordert von der algerischen Regierung seit dem Jahr 2000, dass sie über die Anwendung dieser Gesetze Rechenschaft ablegt. Dies ist immer wieder Gegenstand von Gesprächen mit der Regierung, aber auch schriftlicher Anfragen an relevante Ministerien gewesen. Konkrete Informationen haben wir bis heute nicht erhalten. Opfer von Gewalt bewaffneter Gruppen haben uns auch während dieses Besuchs bestätigt, dass Gerichtsverfahren nur in Ausnahmefällen stattfinden. Die meisten ehemaligen Mitglieder bewaffneter Gruppen haben sich vor Gericht nicht verantworten müssen. Alle Anzeichen sprechen für eine willkürliche Anwendung des Gesetzes, die der Gerechtigkeit Hohn spricht.
Seit über einem halben Jahr ist eines der Hauptthemen in Algerien die bevorstehende Generalamnestie. Für AI, die mit anderen Organisationen in einer gemeinsamen Erklärung davor gewarnt hat, die Straflosigkeit mit einem Amnestiegesetz festzuschreiben, waren die Gespräche über dieses brisante Thema in Algerien sicherlich von großer Bedeutung. Mit wem haben Sie Sich darüber unterhalten können? Haben Sie genaueres über den Inhalt erfahren können?
Die von Präsident Bouteflika geplante Generalamnestie ist in Algerien vor allen Dingen Thema einer groß angelegten Öffentlichkeitskampagne, in der die Regierung für die Amnestie wirbt. Gleichzeitig ist über den Inhalt des Gesetzes bisher nichts bekannt. Regierungsvertreter haben Amnesty International gegenüber geäußert, dass selbst ihnen keine Einzelheiten vorliegen, da die Generalamnestie ein Projekt des Präsidenten ist. Es wird allgemein angenommen, dass es in dem Gesetz um die Garantie der Straffreiheit für alle Akteure im Konflikt gehen wird, einschließlich der Sicherheitskräfte. Momentan wird in der privaten Presse von einem Volksentscheid im September gesprochen, aber auch darüber liegen keine genauen Informationen vor.
Im Grunde handelt es sich um den Versuch, den aktuellen Zustand der Straflosigkeit im Nachhinein zu legalisieren. Dies widerspricht internationalen Abkommen, die den algerischen Staat zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen und zur Wahrung der Rechte der Opfer verpflichten. Amnesty International hat den Behörden diese Verpflichtungen in Erinnerung gerufen und vor den Risiken eines weiteren Aufschubs der nötigen Vergangenheitsbewältigung gewarnt. Daneben haben wir uns mit algerischen Menschenrechtsorganisationen über ihre Sichtweise der geplanten Amnestie ausgetauscht, und über die Fortsetzung unserer gemeinsamen Arbeit diskutiert. Vor allen Dingen haben wir uns Zeit genommen, um die Reaktionen der Opfer und deren Familienangehöriger zu hören. Viele dieser Menschen haben uns gesagt, dass sie sich heute von der Regierung vergessen fühlen. Gleichgültig, welche Täter hinter dem ihnen zugefügten Unrecht stecken, lehnen sie die geplante Generalamnestie ab. Es eint sie, dass sie keine Gerechtigkeit erfahren haben, denn weder die Verantwortlichen auf Seiten des Staates, noch diejenigen auf Seiten der bewaffneten Gruppen, sind bisher zur Verantwortung gezogen worden. Präsident Bouteflika hat unlängst öffentlich von den Opfern verlangt, dass sie im Interesse der „nationalen Versöhnung“ bereit sein müssen, auf ihre Rechte zu verzichten. Aber die grundlegenden Rechte der Opfer können nicht einfach außer Kraft gesetzt werden, weil sie unbequem sind – auch nicht durch einen Volksentscheid. Amnesty International ist überzeugt, dass eine bessere Zukunft nur auf den Prinzipien der Gerechtigkeit, der Wahrheitsfindung und der vollen Entschädigung für die Betroffenen aufgebaut werden kann.
Sie haben mit verschiedenen Menschenrechtlern und Opfern von Verletzungen sprechen können. Haben Sie eine Vorstellung darüber, ob die Folter nach einer Festnahme (oft willkürlich) immer noch systematisch angewandt wird? Haben Sie von neuen Fällen von Verschwindenlassen erfahren?
Zum Glück erfahren wir heute nicht mehr von neuen Fällen von Verschwindenlassen. Allerdings muss noch viel getan werden, damit diese Entwicklung unumkehrbar wird. Zum Beispiel ist in Algerien bis heute der effektive Schutz vor geheimer Haft und Folter nicht gewährleistet. Amnesty International hat sich während dieser Mission insbesondere mit der Frage beschäftigt, ob Folter in Fällen von „Terrorismus“-Verdächtigen weiterhin praktiziert wird. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass sowohl das algerische Gesetz, als auch internationale Menschenrechtsstandards, noch immer nicht eingehalten werden. Vor allen Dingen der militärische Sicherheitsdienst, das Département du renseignement et de la sécurité (DRS), setzt sich mit seinen Verhaftungsmethoden über geltendes algerisches Recht hinweg und ist offenbar nicht der Kontrolle durch zivile Organe des Staates unterworfen. Personen, die durch den militärischen Sicherheitsdienst in Haft genommen werden, sind während der Garde-à-vue-Haft häufig von jeglichem Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten, und über ihren Aufenthaltsort ist nichts bekannt. Wir haben von einer Reihe neuer Fällen erfahren, in denen Menschen in solchen Umständen gefoltert wurden.
Zunehmend gibt es Bemühungen, Algerische Staatsbürger aus europäischen und anderen Ländern nach Algerien auszuweisen, zum Beispiel wenn sie „terroristischer“ Aktivitäten verdächtigt wurden. Dabei verlässt man sich zunehmend auf diplomatische Zusicherungen, dass die betreffenden Personen nicht der Folter ausgesetzt werden. Wir fragen uns, welchen Wert solche Übereinkünfte haben, wenn die zivilen Organe des Staates nicht die nötige Kontrolle ausüben, um diese Zusicherungen auch einzuhalten. Der Schutz vor Folter ist in Algerien heute noch nicht gewährleistet.
1997 als die großen Massaker in Algerien Tausende von Opfern kosteten haben vier internationale Organisationen – darunter AI – einen Appell für eine unabhängige Untersuchungskommission lanciert. Bis heute sind die Urheber dieser Verbrechen nicht identifiziert worden. Hat AI bei dieser Mission dieses Thema mit algerischen Verantwortlichen erörtert? Warum haben die NGOs die Forderung nach einer Untersuchungskommission fallen gelassen ?
Der gemeinsame Appell für eine unabhängige Untersuchungskommission wurde zu einem Zeitpunkt lanciert, als die brutalen Morde an tausenden von Männern, Frauen und Kindern für kurze Zeit die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit erregten. Während die Medienöffentlichkeit sich heute auf andere Krisen konzentriert, haben Amnesty International und andere Organisationen die Forderung nach unabhängigen Untersuchungen in Algerien nicht aufgegeben. Gerade die aktuellen Pläne für eine Generalamnestie machen die Bedeutung dieser Forderung wieder deutlich. Deswegen hat Amnesty International im April in einer gemeinsamen Erklärung mit anderen internationalen Organisationen hervorgehoben, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie sie in Algerien verübt worden sind, nicht einfach amnestiert werden können. Die Betroffenen haben schon zu lange auf Gerechtigkeit gewartet.
*Diese Interview wurde geführt bevor Präsident Bouteflika eine « Charta für den Frieden und die Versöhnung » öffentlicht machte. Inhaltlich ändert sich aber dadurch nicht viel.