Die Verbreitung des Musters von « Verschwindenlassen »
Amnesty International, Ausschnitt aus dem Bericht: Algerien: Zivilisten als Opfer eskalierender Gewalt, November 1997
Die algerische Gesetzgebung erlaubt höchstens 12 Tage Incommunicado-Haft (1). In der Praxis werden jedoch Gefangene routinemäßig in geheimer Haft außerhalb des gesetzlichen Rahmens über Wochen oder sogar Monate festgehalten. Die für Inhaftierung und geheime Haft verantwortlichen Sicherheitskräfte streiten das Festhalten von Gefangenen systematisch ab und weigern sich, die Familien und Rechtsanwälte zu informieren. Während dieser Zeit, in der die Gefangenen von der Außenwelt abgeschnitten sind, besteht die größte Gefahr für Folter, Tötung oder « Verschwindenlassen ». Die Gerichtsbarkeit hat anscheinend wenig Kontrolle über die verschiedenen Sicherheitskräfte (Polizei, Gendarmerie, Militärische Sicherheit, paramilitärische Einheiten), die Verdächtigte verhaften und oft über lange Zeiträume in geheimen Haftzentren festhalten. Untersuchungsrichter zeigen durchgehend geringes Interesse herauszufinden, wie die Gefangenen in die Haft der Sicherheitskräfte gelangen, wo, wann und von wem sie verhaftet werden, wo sie gefangenhalten werden und wie lange – selbst dann, wenn es zahlreiche Beweise dafür gibt, daß Gefangene unter Mißachtung der Gesetze in geheimer Haft festgehalten wurden. Sogar die offizielle Menschenrechtsbehörde ONDH, die häufig Behauptungen über Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte bestreitet, gibt in ihren Berichten zu, daß geheime Haft ein Problem darstellt Bis heute ist keine gerichtliche Untersuchung zu Fällen von geheimer Haft bekannt.
Der Fall von Dr. Messaoud Ouziala: Messaoud Ouziala, ein 41jähriger Chirurg für Nierentransplantation, wurde entführt, als er am 8. Juli 1997 von seiner Arbeit im Mustapha-Krankenhaus im Zentrum Algiers nach Hause fuhr. Nach seinem « Verschwinden » wandten sich seine Frau, auch eine Ärztin, und seine Familie an den Sicherheitsdienst und die Gerichtsbehörden, doch der Sicherheitsdienst weigerte sich die Meldung über sein « Verschwinden » aufzunehmen. Auch amnesty international wandte sich sofort nach seiner Entführung an die algerischen Behörden, erhielt erst deutlich nach seiner Freilassung eine Antwort. Während der Entführung Dr. Ouziala’s war es nicht möglich in Erfahrung zu bringen, ob er von Sicherheitskräften oder bewaffneten Oppositionsgruppen verschleppt worden war. Die Tatsachen jedoch, daß die Sicherheitskräfte die Aufnahme der Meldung über sein « Verschwinden » verweigerten und daß algerische Zeitungen amnesty international mitteilten, sie könnten Informationen über die Entführung nicht veröffentlichen, weisen darauf hin, daß es die Sicherheitskräfte waren, die ihn entführten. Nach 15 Tagen geheimer Haft wurde Ouziala schließlich am 22. Juli 1997 ohne Anklage oder Prozeß freigelassen. Der Präsident der ONDH bestätigte amnesty international am 30. Juli schriftlich die Freilassung Dr. Ouzialas, kommentierte aber weder die Entführung noch die geheime Inhaftierung, eine Verletzung sowohl der algerischen Rechtsprechung als auch der internationalen Menschenrechtsstandards. (2)
Seit 1993 und vor allem 1994 erhält und dokumentiert amnesty international Beweise für Hunderte von Fällen von « Verschwindenlassen ». Nach den Informationen aus verschiedenen Quellen und Berichten ist die Anzahl der « Verschwundenen » auf ungefähr 2.000 zu schätzen. Die betroffenen Personen, zumeist Männer, aber auch einige Frauen, sind nach ihrer Festnahme durch die Sicherheitskräfte in ihren Wohnungen, ihrem Arbeitsplatz oder auf der Straße « verschwunden ». Die Bemühungen ihrer Familien und Rechtsanwälte, Informationen über den Aufenthaltsort zu erhalten, sind ohne Erfolg, weil die Behörden systematisch bestreiten, Erkenntnisse über diese Personen zu besitzen, und dies auch in den Fällen, wo die Inhaftierung durch Mitgefangene, Angehörige der Sicherheitskräfte oder Beamte, die die Familien vertraulich informieren, bestätigt wird. Einige der « Verschwundenen » sollen in Haft an Folterungen gestorben oder extralegal hingerichtet worden sein. In den letzten zwei Jahren teilten die Regierungsbehörden UN-Organisationen, die Fälle von « Verschwindenlassen » untersuchten, mit, daß einige Personen von den Sicherheitskräften bei bewaffneten Auseinandersetzungen oder beim Fluchtversuch getötet worden seien, andere wiederum durch « terroristische » Gruppen. Sie unterließen es jedoch, die notwendigen Details zu berichten, und gaben auch keine Erklärung darüber ab, weshalb die Familien und Rechtsanwälte über Monate oder Jahre hinweg nicht informiert worden waren. Diese hatten kontinuierlich versucht, von den Behörden Informationen über die Aufenthaltsorte und das Schicksal der « Verschwundenen » zu erhalten.
Mokhtar Youssfi, 40 Jahre, verheiratet, zwei Kinder, wurde am 2. November 1994 in seiner Wohnung in Ain el-Turk (Oran) verhaftet. Alle Bemühungen seiner Familie herauszufinden, wo er gefangenhalten wird, waren erfolglos. Auch amnesty international erkundigte sich nach dem Fall bei den algerischen Behörden, erhielt aber keine Antwort. Im Oktober 1996 teilten die Behörden der UN-Arbeitsgruppe für Verschwundene, die sich nach dem Fall erkundigt hatte, mit, daß er bei einer Schießerei « zwischen Sicherheitskräften und seiner terroristischen Gruppe » am 3. November 1994 getötet worden sei. Bis heute haben die algerischen Behörden weder weitere Details mitgeteilt, noch irgendeine Erklärung abgegeben. Die Familie von Mokhtar Youssfi, die wiederholt Anfragen an die Behörden stellte, wurde nicht über seinen Tod informiert.
(1) Artikel 51 des Code de Procédure Pénale (CPP), Strafprozeßordnung (wie geändert durch Anordnung 95-10 von 25. Februar 1995)
(2) Dr. Ouziala wurde im Februar 1992 schon einmal festgenommen und in Administrativhaft ohne Anklage oder Prozeß für fast vier Jahre in einem Wüstencamp im Süden Algeriens festgehalten: im Dezember 1995 wurde er ohne Anklage freigelassen. Im Februar 1996 nahm er seinen Dienst im Krankenhaus wieder auf Nach seiner Freilassung 1995 wurde er ab und zu von den Sicherheitskräften nur Routinebefragungen vorgeladen.