Abschiebung angekündigt
Familie B. kam im Februar 1993 nach Deutschland, beantragte Asyl und wurde durch die Instanzen abgelehnt. Sie lebt seitdem in einem kleinen Dorf nahe Lörrach an der schweizerischen Grenze. Für den 1. Sept. 1999 steht die Abschiebung an, ausgeführt durch ein örtliches Polizeikommando, das vom Regierungspräsidium Freiburg beauftragt war. Soweit stimmen die Darstellungen noch überein. Im Innenministerium in Stuttgart will sich kurz danach niemand mehr daran erinnern, dass zwei Monate vorher ein Gespräch zwischen einem hochrangigen Sachbearbeiter des Ministeriums und dem Rechtsanwalt der Familie B. stattfand. Beistand der Familie ist niemand geringeres als der in Freiburg tätige ehemalige Justizminister von Baden-Württemberg, Dr. Schieler. Hierbei wurde eine Vereinbarung getroffen, dass gemäss der Empfehlung des Petitionsausschusses des Landtags Baden-Württemberg zunächst der gesundheitliche Zustand der Frau der algerischen Familie abgeklärt werden sollte. Diese litt an einer Schilddrüsenerkrankung und es schien fraglich, ob diese Behandlung in Algerien fortgesetzt werden könne.
Infolge dieser Vereinbarung wähnte sich die Familie am 1. Sept. 1999 auch in Sicherheit und rechnete nicht mit einer plötzlichen Abschiebung. Der Familievater war morgens mit der Zubereitung des Frühstücks für die Kinder beschäftigt, als die Polizei vor der Tür stand. Ein Versuch, seinen Anwalt um diese frühe Zeit zu erreichen, scheiterte selbstverständlich. Die Frau sollte im Nachbarzimmer unter Aufsicht packen, der Mann war mit einem Polizisten in einer winzigen Küche allein. Plötzlich fielen zwei Schüsse, die erwiesenermassen aus der Pistole des Ortspolizisten stammten. Sie verletzen den Familienvater lebensgefährlich. Seine Kinder sehen ihren Vater im Blut auf dem Küchenboden liegen, ein Rettungshubschrauber wird geordert. Für seine Frau und die drei Kinder wird die Abschiebung fortgesetzt. Erst 80 km später – auf der Autobahn – erfolgt das Signal, die Abschiebung zu stoppen.
Das gegen den Polizisten eingeleitete Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft Lörrach wird nicht zur Anklage zugelassen; das Amtsgericht sieht den nicht bestrittenen Einsatz der Schusswaffe als « unvermeidbar » an, der Polizist habe für den zweiten, lebensgefährlichen Schuss seine Waffe nicht mehr « korrigieren » können, daher habe er infolge des Rückstosses « ein kleines Stück nach oben » geschossen und die Kugel den gesamten Beckenbereich durchstossen.
Eine andere Version, nämlich die des Familienvaters und seines Rechtsanwalts, die im übrigen durch ein medizinisches Gutachten gestützt wird, dass den Schusskanal als dazu im Widerspruch stehend analysiert hatte, wird vom Gericht als « unglaubwürdig » abgelehnt. Zustellung dieses Geschenks: einen Tag vor Weihnachten. Selbst die Staatsanwaltschaft legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein. Ihr schien der Vorwurf der zumindest « fahrlässigen Körperverletzung » plausibel.
Das Landgericht Freiburg kommt knapp drei Wochen später in der Beschwerdeentscheidung jedoch zu derselben Bewertung wie die unterste Instanz. Der Polizist habe einen drohenden Suizidversuch verhindern wollen, der Algerier habe überdies ein Messer in der Hand gehabt, daher sei der Polizist berechtigt gewesen, das « riskante Rettungsmanöver durchzuführen ».
Der algerische Mann erklärte vor kurzem auch in einer öffentlichen Veranstaltung in Lörrach, dass der Ablauf der Ereignisse ohne seine eigene Darstellung nicht rekonstruierbar sein kann, dies auch schon deshalb, da der beteiligte Polizist bis heute dazu keine Aussage gemacht hat. Dem Angeschossenen sei bereits nach dem ersten Schuss in den Oberschenkel der Boden unter den Füssen weggezogen worden, weshalb er beim zweiten, vom Polizisten abgegebenen Schuss schon am Boden lag. Der von Beobachtern als « sehr christlich » bezeichnete Polizist habe daher ohne weitere Not auf ihn geschossen; ein vermutetes Messer sei ohnehin nicht im Spiel gewesen.
Überdies hätte der Polizist jederzeit die Möglichkeit gehabt, von seinem Vorhaben, die Abschiebung auf Gedeih und Verderb durchzuführen, zurückzutreten. So sei es auch drei Wochen vor diesem Ereignis in einem Nachbarort passiert, als die Polizei schliesslich von ihrem Vorhaben abliess, einen Mann abzuschieben und stattdessen einen psychologischen Berater hinzuzog.
Der Vorgesetzte des Polizisten, Dienststellenleiter Heller, möchte sich zu dem konkreten Vorgang nicht äußern; er gesteht allerdings einen individuellen « Ermessensspielraum » ein und versichert, dass inzwischen jeder Polizist in seinem Landkreis einen entsprechenden Lehrgang « Abschiebung » absolviert habe.
Der « Arbeitskreis Miteinand » aus Lörrach ist bestürzt darüber, dass nunmehr keine öffentliche Hauptverhandlung zur Klärung der Ereignisse beitragen kann, dass zahlreiche offene Fragen nicht zum besseren Rechtsverständnis beitragen würden. Vitus Lempfert vom Arbeitskreis hätte sich gewünscht, dass in einer Hauptverhandlung die offenkundigen Widersprüche hätten geklärt werden können.
Der algerische Mann ist zu 70 % invalid und weiterhin in ständiger Arztbehandlung; Frau und Kinder durch die Ereignisse im Sept. 1999 stark mitgenommen und angstbesessen, dass in Kürze die Polizei wiederkommen könnte. Die Voraussetzungen dafür sind bereits geschaffen; kaum hatte auch das Landgericht die Anklageerhebung abgewiesen, erreicht die Familie ein Schreiben des Regierungspräsidiums Freiburg, man möge doch bitte in zwei Wochen zu einer freiwilligen Ausreise Stellung beziehen, andernfalls drohe die Abschiebung. Ein humanitäres Bleiberecht aufgrund der schweren Verletzungen kommt nach Ansicht der Behörde nicht in Betracht; damit würde, so vermutet das Südbadisches Aktionsbündnis gegen Abschiebung, womöglich noch nachträglich dem « unglaubwürdigen » Algerier Recht gegeben. Dieser war übrigens vor seiner Flucht in Algerien in einem deutsch-algerischen Freundeskreis aktiv.
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Arbeitskreis Miteinander e.V.
Ringstr. 5
79595 Rümmingen
25. Januar 2001
Schüsse auf einen Asylbewerber werden als « Unglücksfall » ohne Gerichtsverfahren abgetan
Informationsveranstaltung am 2. Februar um 16 Uhr in der Stadtbibliothek in Lörrach
Wir weisen darauf hin, dass sich diese Veranstaltung nicht gegen den
betroffenen Polizisten richtet, sondern gegen das Verhalten der Justiz. Nach
unserer Auffassung beschädigt der Gerichtsbeschluss unseren Rechtsstaat. Der
Arbeitskreis Miteinander und der Asylkreis Steinen betreuen den Asylbewerber
seit langer Zeit. Wir können nicht hinnehmen, dass in einem Fall mit so
gravierenden Folgen quasi ein Urteil ohne Verfahren gefällt wird, während
Sachverhalte widersprüchlich bleiben.
Am 1. September 1999 wurde in Steinen ein algerischer Asylbewerber bei einem
Abschiebeversuch durch zwei Schüsse eines Polizisten lebensgefährlich
verletzt. Der Algerier ist heute schwer behindert und wird wohl nicht mehr
arbeiten können.
Der Rechtsanwalt des Algeriers hat den Polizisten wegen schwerer
Körperverletzung im Amt angezeigt. Von der Staatsanwaltschaft Lörrach wurde
dann Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung erhoben. Das Landgericht
Freiburg lehnte jetzt in zweiter Instanz die Eröffnung eines Hauptverfahrens
ab und bestätigt dem Polizisten rechtmäßiges Verhalten, wenn er mit zwei
Schüssen die von ihm vermutete, aber keineswegs bewiesene Absicht des
Asylbewerbers, sich aus dem Fenster seiner Wohnung im vierten Stock zu
stürzen, zu vereiteln suchte. Dass der Asylbewerber dabei lebensgefährlich
verletzt wurde, sei ein Unglücksfall.
In der Informationsveranstaltung wollen wir die Fragen aufzeigen und
erläutern, die nun ungeklärt bleiben, und auch der betroffenen Familie
Gelegenheit geben, dazu Stellung zu nehmen.
Mit freundlichen Grüßen
———————————————————————————————————- Anlage zur Einladung zur Informationsveranstaltung am 2. Februar 2001 um 16 Uhr in der
Stadtbibliothek Lörrach
Folgende Punkte wären unserer Ansicht nach klärungsbedürftig gewesen:
Die Aussagen zur Position des Asylbewerbers beim zweiten Schuss des Polizisten sind widersprüchlich. Augenzeugen sind ausschließlich die beiden Beteiligten. Während der Polizist nach dem Vorfall angab, dass der
Asylbewerber nach dem ersten Schuss auf das Fensterbrett geklettert sei, sagt dieser aus, dass er durch den ersten Schuss wie paralysiert zu Boden gefallen ist. Warum hat man nicht anhand des Schusskanals im Körper des Asylbewerbers und des unbestrittenen Standorts des Polizisten die tatsächliche Situation
möglicherweise in einem Vororttermin aufgeklärt?
Warum nennt der Staatsanwalt in seiner Anklageschrift als Einschussstelle « in Höhe des rechten Beckens, obwohl die Einschusstelle sich nachprüfbar am « proximalen rechten Oberschenkel » (Arztbericht) befindet ? Der Schusskanal im
Körper des Asylbewerbers verläuft tatsächlich von unten nach oben, da das Projektil im linken Beckenknochen stecken blieb. Da der Polizist im Stehen geschossen hat, kann der Asylbewerber daher zu diesem Zeitpunkt nicht
seitlich auf dem Fensterbrett gesessen haben, wie vom Staatsanwalt angegeben.
Der Rechtsanwalt des Polizisten durfte beim Verhör des Asylbewerbers dabei sein, obwohl sich dessen Rechtsanwalt schriftlich dagegen gewehrt hat. Warum fanden die anderen Zeugenvernehmungen ohne Beisein der Gegenseite statt?
Ein zwischendurch eingeleitetes Verfahren gegen den Asylbewerber wegen uneidlicher Falschaussage wurde « bis zur Durchführung der Hauptverhandlung vorläufig eingestellt ». Warum werden dann in der Begründung des
Gerichtsbeschlusses die Aussagen des Asylbewerbers bereits als « unglaubwürdig » abgetan
Die Polizistin hat ausgesagt, dass sie gesehen habe, wie der Asylbewerber ein Messer in etwa 20 cm Abstand gegen den Polizisten gehalten hat. Die Ehefrau des Asylbewerbers aber hat ausgesagt, dass die anwesende Polizistin sich mit
ihr während der ganzen Zeit im Schlafzimmer befunden hat, und sie beim Packen beaufsichtigte. Erst nach dem ersten Schuss seien beide aus dem Zimmer gestürzt. Warum werden hier nicht Aussage gegen Aussage offengelegt, und den
Rechtsanwälten die Gelegenheit zu weiteren Fragen gegeben?
Warum präsentiert die Staatsanwaltschaft nicht das Messer mit den Fingerabdrücken des Asylbewerbers? « In einer Presseerklärung schrieb sie: « Der mit einem Messer bewaffnete Asylbewerber… »
Es ist überhaupt immer von einem Messer die Rede, von dem « nicht ausgeschlossen werden könne, dass es der Asylbewerber in der Hand gehabt hatte ». Das sofort eingeleitete Verfahren wegen Widerstands gegen die
Staatsgewalt wurde indes « in Anbetracht seiner schweren Verletzungen » eingestellt. Wie ist das zu verstehen?
Warum wurde dem Zeugen Belamri, ein algerischer Freund des Asylbewerbers, den dieser an dem Morgen zu Hilfe holte, bei seiner Vernehmung kein Dolmetscher zur Seite gestellt? Die von ihm festgehaltenen Aussagen entsprechen nicht dem, was er sagen wollte.
Gilt für Polizisten nicht die Einschätzung des Bundesinnenministers, der in einem Erlass an den Bundesgrenzschutz ausdrücklich betonte, dass bei Gefahr für Leib und Leben von einer Rückführung eher Abstand genommen werden soll.
Ein Verfahren, so meinen wir, hätte auch dem Polizisten genützt, denn es hätte vermutlich aufgezeigt, in welch schwierige Situationen die Beamten geschickt werden, und dass sie damit überfordert sein können.
Ein Verfahren aber hätte auch dem Asylbewerber als Nebenkläger nützen können, der wegen seiner Invalidität auf eine Entschädigung angewiesen ist.
Arbeitskreis Miteinander e.V. – Asylkreis Steinen