« Sie zeigten auf den Namen desjenigen, den sie suchten, nämlich mich »

« Sie zeigten auf den Namen desjenigen,
den sie suchten, nämlich mich »

Ein Beispiel von Sippenverfolgung

Kamal, ein algerischer Flüchtling in Deutschland berichtet im Dezember 1997 gegenüber algeria-watch:

Ich bin 1973 geboren und wohne in Cherarba im Osten Algiers. Im August 1994 bin ich nach Deutschland geflohen. Ich habe hier einen falschen Namen angegeben, da ich auch hier angst hatte vor einer Verfolgung durch unsere Sicherheitsbehörden. Bevor meine Verfolgungsgeschichte begann, besuchte ich die Abiturklasse im Gymnasium Abane Ramdane in Algier. Ich hatte bereits zweimal eine Ladung zum Militärdienst erhalten und die Einberufung verschieben können. Bei der dritten Ladung ging ich nicht hin. Ich hatte angst. Ich hatte oft davon gehört, daß Rekruten umgebracht werden, und das befürchtete ich auch.

Sicherheitskräfte von der Gendarmerie kamen zu uns, um mich abzuholen. Ich war nicht da und wußte nun, daß ich das Land verlassen mußte. Ich fälschte das Datum meines Zurückstellungsnachweises, da ich beim Passieren der Grenze diesen vorlegen mußte. Es gelang mir allerdings nicht, nach Tunesien zu kommen. Ich wurde an der Grenze festgehalten und für zwei Tage verhaftet. Im Juni 1993 ging ich zurück nach Algier und schaffte es, eine erneute Zurückstellung für ein Jahr mir ausstellen zu lassen.

Doch diese Bescheinigung sollte mich nicht vor einer Verfolgung schützen: die Gendarmen kamen zu uns, um mich zu holen. Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause und verstand, daß ich zu verschwinden hatte. Ich versteckte mich bei meinem Bruder in El-Harrach und floh dann ins Ausland.

Nachdem ich meine Familie verließ sind die Sicherheitskräfte viermal zu uns gekommen, um nach mir zu suchen. Sie glauben, ich sei in die Berge gegangen zu den bewaffneten Gruppen. Doch sie suchen nicht nur nach mir, unsere Familie hat mittlerweile viele Mitglieder verloren, weil wir scheinbar als « Terroristen-Familie » gelten.

Die Morde in unserer Familie begannen, als ich noch in Algerien lebte. Das erste Opfer war ein Journalist beim staatlichen Fernsehen. Seine Mutter ist eine Cousine meines Vaters, sein Vater, der bei uns wohnte, war krank. Er war gekommen, um diesen zu besuchen. Er war unruhig und sagte uns, er fühlte sich verfolgt. Als er ging, begleitete ich ihn zu seinem Auto. Er stieg ein und fuhr los, als plötzlich zwei Wagen auf ihn losbrausten, ein Auto des Typs Nissan (typisches Modell, das die Spezialeinheiten, die Ninjas verwenden), und an den Typ des zweiten Autos erinnere ich mich nicht mehr. Sie blockierten ihn, mehrere Männer stiegen aus, holten ihn aus dem Auto und erschossen ihn. Ich bin mir sicher, daß es Leute von der Regierung waren, sie hatten Funksprechgeräte, gute Waffen und die Art, den Auftrag auszuführen und über ihre Walkie-Talkies mit anderen in Kontakt zu treten, schien mir sehr professionell.

Mit dem Tod meines Verwandten begann die Reihe der Verluste in unserer Familie. Wir wohnen in einem Haus, und mein Onkel (der Bruder meines Vaters) und seine Familie wohnen in ihrem Haus direkt neben uns. Einer seiner Söhne wurde ermordet. XY, geboren 1975, wurde am 27. Dezember 1993 von Spezialeinheiten, genannt « Ninjas », ermordet. Sie kamen mit weißen Nissans, umzingelten das Haus und suchten nach ihm. Sie behaupteten, er würde den bewaffneten Gruppen in den Bergen helfen, was allerdings nicht stimmt. Sie töteten ihn vor seinen Angehörigen.

Der zweite Cousin, der den Tod fand, ist der Sohn eines anderen Onkels. Das Militär kam und tötete ihn vor der Haustür im Ramadan 1995 (März). Beide Vettern sind in der Presse als Terroristen vorgestellt worden und wurden an Plätzen begraben, die eigens für Terroristen eingerichtet wurden.

Als ich bereits in Deutschland war, suchten die Sicherheitskräfte weiter nach mir. Sie kamen nochmals zu uns nach Hause im Sommer 1996 und fragten nach dem Familienbuch. Sie zeigten auf den Namen desjenigen, den sie suchten, nämlich mich. Sie nahmen meinen Bruder mit (geboren 1971), der seinen Militärdienst absolviert hatte. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Er ist verschwunden.

Ein weiterer Bruder von mir (geboren 1978) ist bei einer Straßenkontrolle im Sommer 1996 (nach der Festnahme des 1971 geborenen Bruders) getötet worden.

Mittlerweile wohnen meine Familie und die meines Onkels nicht mehr in ihren Häusern, sondern sind aufgeteilt zwischen anderen Familienmitgliedern in El-Harrach und Badjarrah. Meine Tante und ihre Tochter wurden festgenommen und in ein Lager speziell für Frauen gebracht. Meine Schwester ist in einem Interview, das ein deutscher Fernsehjournalist gemacht hat, befragt worden. Ich kann eine Aufnahme dieses Berichtes vorlegen und Fotos aus meiner Familie, um nachzuweisen, daß sie meine Schwester ist. Ich kann auch Kopien der Todesurkunden meiner zwei Vettern vorlegen, um zu zeigen, daß Sippenverfolgung vorliegt. Ich kann momentan nicht zurück nach Algerien, da ich gesucht werde und unsere Familie als eine Terroristen-Familie angesehen wird.