Algerien: Das Warten auf den richtigen Moment

Gefährlicher Transit

Algerien: Das Warten auf den richtigen Moment

Von Rüdiger Maack, Deutschlandfunk, 27. April 2006, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/transit/493816/

Sie heißen Iffanie, Obih und IK. Sie sind Nigerianer und stehen mit gesenkten Köpfen am Eingang der großen Moschee von Maghnia. Es ist Mittagszeit – und einige der Gläubigen, die in die Moschee zum Beten gehen, haben tatsächlich Mitleid mit ihnen und drücken ihnen ein paar Dinare in die Hand. Iffanie, Obih und IK betteln – für sich und die anderen Nigerianer in Maghnia.

Ich habe eine Woche gewartet und habe den anderen zugeguckt, wie sie betteln. Und dann haben die Leute mir wirklich auch ein bisschen Geld zugesteckt. Das war am Anfang ziemlich schwer für mich. Ich meine, ich habe noch nie in meinem Leben gebettelt! In Nigeria würde ich das niemals tun.

Die Kleinstadt Maghnia liegt im Norden Algeriens, direkt an der Grenze zu Marokko. In Maghnia hielten sich früher viel mehr Clandestins auf, illegale Einwanderer. Wenn es die marokkanischen Behörden auf der anderen Seite der Grenze wieder einmal auf die Migranten abgesehen hatten, konnten sie sich hierher zurückziehen. In Maghnia hatten sie ihre Ruhe.

Hier konnten sie als Tagelöhner arbeiten, in den großen Olivenhainen und Orangenplantagen außerhalb der Stadt. Hier konnten sie wieder Kräfte sammeln, bevor sie erneut über die Grenze nach Marokko gingen, um bis ans Mittelmeer zu kommen und von dort weiter nach Europa.

Mehr als Tausend Emigranten waren früher in Maghnia – sie hatten sogar ihre eigene Barackensiedlung. Aber die Hütten sind zerstört worden. Und bis auf einige wenige sind die Emigranten verschwunden.

Im November letzten Jahres sind die Gendarmen gekommen und haben unsere Hütten zerstört. Das waren schon fast richtige Häuser! Sie haben alles kaputt gemacht und uns gesagt, wir sollten verschwinden. Wir konnten nichts dagegen tun.

Die algerischen Behörden hatten die Illegalen lange toleriert. Doch dann begannen sie im vergangenen Herbst mit Massenabschiebungen. Kurz zuvor hatte Marokko mehrere tausend Emigranten außer Landes gebracht. Und nun wollte auch Algerien nicht zurückstehen, um die guten Beziehungen mit der Europäischen Union nicht zu gefährden.

Deshalb sind fast keine Schwarzen mehr in Maghnia zu sehen. Sie würden hier auch keine Arbeit mehr finden, weil die Bauern heute viel zu große Angst vor der Polizei und ihren Razzien haben. Die wenigen, die noch da sind, verstecken sich.

Es ist Mitte März und nasskalt. Morgens zeigt das Thermometer gerade mal 7°. Kein Wetter, um unter freiem Himmel zu übernachten.

Es hat die ganze Nacht geregnet. Und mir war wieder so kalt! Ich habe mich zugedeckt, aber die Decke war durchnässt. Der Regen war ziemlich stark.

Iffanie und die beiden wollen nicht zeigen, wo sie sich versteckt halten und übernachten. Das Gelände liegt am Ufer eines Flusses, der aus der Stadt hinaus und in die Felder führt. Überall liegt Müll.

Wir leben neben den Abwasserkanälen. Hier schlafen wir auch. Wir breiten unsere Decken auf dem Boden aus und mit einer anderen decken wir uns zu. Ganz früh morgens, noch vor fünf Uhr, stehen wir auf, dann falten wir unsere Decken wieder zusammen und verstecken sie. Sonst werden sie gestohlen. Dann müssen wir wieder auf Pappkartons schlafen.

Die drei Nigerianer sind seit letztem Jahr unterwegs. Sie haben sich auf der Reise kennen gelernt und teilen jetzt ihr gemeinsames Schicksal. Doch wenn sie Europa wirklich näher kommen sollten, wird jeder auf sich selbst gestellt sein. Obih ist der älteste von ihnen, er ist 27.

Ich weiß, dass Gott mir helfen wird. Sobald ich in Europa bin, werde ich meine Familie unterstützen und alle meine Freunde! Ich werde ihnen helfen. Ich werde vielen Menschen helfen.

Obih sagt, er sei Händler in Nigeria gewesen – wie die beiden anderen auch. Doch die Geschäfte gingen schlecht. Er machte sich auf den Weg, um seine Familie zu unterstützen. Doch jetzt ist es genau umgekehrt: Er ist auf die Hilfe seiner Familie angewiesen. Er braucht jeden Cent. Obih will in die Schweiz.

Einer meiner Freunde lebt dort und verdient eine Menge Geld. Er hat sich sogar in Nigeria ein eigenes Haus gebaut. Ich will auch dorthin. Ich will ihn treffen und jede Arbeit annehmen, die ich finden kann, damit ich Geld verdiene.

Iffania will lieber nach Deutschland. Er glaubt fest daran, dass er es schaffen wird.

Ich will nach Deutschland, weil ich gehört habe, dass es dort viel Arbeit gibt. Ich kann hart und gut arbeiten, und genau das will ich dort tun. Und dann werde ich nach Nigeria zurück- gehen und ein viel besseres Leben führen!

Im Juli letzten Jahres hat er sein Dorf irgendwo in Nigeria verlassen. Zuhause war er der einzige in der Familie, der Arbeit hatte und ein bisschen Geld verdiente. Iffania hat acht Geschwister. Sechs Brüder und zwei Schwestern.

Ich musste etwas unternehmen! Ich würde alles tun, um nach Deutschland zu kommen! Nur, damit es meiner Familie besser ginge.

Wer es bis nach Maghnia geschafft hat, ist schon weit gekommen. Hat Hunger und Kälte überstanden und die Wüste überlebt. Trotzdem hätten die drei Nigerianer allen Grund verzweifelt zu sein, so schlecht, wie es ihnen geht und so ungewiss, wie ihre Zukunft ist. Doch sie machen sich gegenseitig Mut, geben die Hoffnung nicht auf und malen sich die Zukunft in Europa aus.

Wenn ich nach Europa komme, werde ich alle überraschen! Ich weiß, dass Gott mir helfen wird. Ich bin fest dazu entschlossen, ich habe überhaupt keine Zweifel. Ich denke nicht daran, nach Nigeria in mein Dorf zurückzugehen. Dann hätte ich doch das ganze Geld vergeudet! Wer zweifelt, wird abgeschoben. Deshalb muss es immer weiter gehen – nur immer nach vorne und auf Gott vertrauen. Ich gehe nach Europa!

IK ist der stillste von allen. Und er ist bei weitem nicht so optimistisch. Er zweifle manchmal daran, dass er sein Ziel erreichen wird, gesteht er schließlich. Es geht ihm schlecht.

Seit so vielen Monaten habe ich nicht mehr gebadet oder geduscht. Seit Monaten! Wenn meine Mutter mich so sehen würde, sie würde weinen. Sie würde bestimmt nicht glauben, in welchem Zustand ich bin. Ich würde nicht noch einmal aufbrechen. Der Preis ist einfach zu hoch.

Keiner von den Dreien weiß, wie es weitergehen soll. Und so warten sie. Und beten. Und hoffen.

Wir beten jeden Abend zusammen und danken Gott dafür, was er für uns getan hat. Danach reden wir viel über unsere Familien, über unsere lieben Eltern und die Geschwister. Und dann stellen wir uns vor, wie das wohl sein wird, wenn wir nach Europa einreisen. Und wer von uns es als erster schaffen wird.