Amnesty International: Berichtszeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2003
Amnesty International
Berichtszeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2003
Der Jahresbericht 2004 gibt Auskunft über die Menschenrechtssituation in aller Welt im Jahre 2003.
Amtliche Bezeichnung: Demokratische Volksrepublik Algerien Staatsoberhaupt: Abdelaziz Bouteflika Regierungschef: Ahmed Ouyahia (löste im Mai Ali Benflis ab)Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft UN-Frauenrechtskonvention: mit Vorbehalten ratifiziert Zusatzprotokoll zur Frauenrechtskonvention: nicht unterzeichnet .
Hunderte Menschen kamen im Berichtsjahr im Zuge des seit 1992 anhaltenden bewaffneten Konflikts ums Leben. Mehrere hundert Zivilisten starben bei Anschlägen bewaffneter Gruppen. Auch Hunderte Angehörige der Sicherheitskräfte und vom Staat bewaffneter Milizen verloren bei Anschlägen und Hinterhalten ihr Leben. Mehrere hundert der Mitgliedschaft in bewaffneten Gruppen verdächtigte Personen fanden im Zuge von Einsätzen der Sicherheitskräfte den Tod. Folterungen waren nach wie vor weit verbreitet, vor allem in geheimer und unbestätigter Haft. Personen mit angeblichen Verbindungen zu von der Regierung als »terroristisch« bezeichneten Aktivitäten sahen sich systematischen Folterungen ausgesetzt. Menschenrechtsverteidiger waren weiterhin mit Einschränkungen durch die Behörden konfrontiert, und Journalisten gerieten nach der Aufdeckung von Korruption auf höchster Ebene ins Visier der Strafverfolger. Trotz einer lebhafteren Debatte über Menschenrechtsfragen blieb Straflosigkeit ein Haupthindernis bei der Bewältigung früherer Menschenrechtsverstöße, darunter Tausende Folterungen, Fälle von »Verschwindenlassen« und Tötungen, die seit 1992 von den Sicherheitskräften, von staatlicherseits mit Waffen ausgerüsteten Milizen und bewaffneten Gruppierungen begangen worden waren. Der 1992 verhängte Ausnahmezustand blieb in Kraft. Gegen mehrere vermeintliche Mitglieder bewaffneter Gruppierungen wurde die Todesstrafe verhängt, allerdings galt weiterhin ein Hinrichtungsmoratorium.
Hintergrundinformationen
Infolge der offenen Machtkämpfe im Vorfeld der für April 2004 angesetzten Präsidentschaftswahlen war die politische Situation instabil. Demonstrationen, Streiks und öffentliche Proteste waren weit verbreitet, und manche der Protestaktionen führten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen De-monstranten und Sicherheitskräften. Die Bürger Algeriens äußerten ihre Unzufriedenheit vor allem über inländische soziale, wirtschaftliche und politische Probleme, brachten aber auch ihre Ablehnung des Kriegs im Irak zum Ausdruck. Ein im Oktober 2001 verhängtes Demonstrationsverbot in der Hauptstadt Algier blieb in Kraft.
Algerische Frauenorganisationen setzten ihre Kampagne zur Reform des algerischen Familien-rechts und zur Herbeiführung der rechtlichen Gleichstellung von Männern und Frauen fort.
In der überwiegend von Amazigh (Berbern) bewohnten Kabylei im Nordosten Algeriens fanden weiterhin Verhandlungen zwischen der Regierung und einem Teil der Protestbewegung statt, die mehr Unabhängigkeit für die Region sowie die Anerkennung von Kultur und Sprache der Amazigh forderte. Im Laufe des Berichtszeitraums kamen fast alle inhaftierten kabylischen Aktivisten unter Auflagen frei, gegen einige von ihnen waren jedoch unter der Anklage der Störung der öffentlichen Ordnung oder der Mitgliedschaft in einer nicht genehmigten Organisation Gerichtsverfahren anhängig.
32 europäische Touristen wurden in den Monaten Februar und März in der algerischen Sahara in der Nähe der Ortschaft Illizi entführt. 17 von ihnen kamen im Mai frei, und eine zweite Gruppe von 14 Personen wurde im August in Nord-Mali auf freien Fuß gesetzt, nachdem eine weibliche Geisel ums Leben gekommen war, dem Vernehmen nach infolge eines Hitzschlags. Verantwortlich für die Ent-führungen soll angeblich die bewaffnete Gruppierung Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf (Groupe salafiste pour la prédication et le combat – GSPC) gewesen sein.
Die USA und mehrere Mitgliedstaaten der Europäischen Union bekräftigten öffentlich ihre Unterstützung für die algerische Strategie der »Terrorismusbekämpfung« und bereiteten nach einem jahre-langen De-facto-Embargo den Weg für die Wiederaufnahme von Waffenlieferungen nach Algerien.
Tötungen
Der 1992 ausgebrochene Konflikt dauerte im Berichtszeitraum weiter an. Nach von offiziellen Quellen veröffentlichten Zahlen kamen im Jahr 2003 etwa 900 Menschen ums Leben. Es gab keine Bestätigung dieser Angaben von unabhängiger Seite. Unter den Getöteten befanden sich Hunderte Zivilisten, die bei Anschlägen bewaffneter Gruppen umgekommen waren. Die dafür Verantwortlichen wurden im Allgemeinen nicht identifiziert. Überdies verloren Hunderte Angehörige der Sicherheits-kräfte und vom Staat bewaffneter Milizen bei Anschlägen und Hinterhalten ihr Leben, während mehrere hundert Mitglieder bewaffneter Gruppierungen bei Einsätzen der Sicherheitskräfte den Tod fanden. Wenig oder gar nichts verlautete über Versuche, die Täter zu fassen, was Bedenken laut werden ließ, dass es sich bei manchen dieser Tötungen um extralegale Hinrichtungen gehandelt haben könnte. Unter Berufung auf Angaben der Sicherheitskräfte war in algerischen Zeitungen auch die Rede davon, dass sporadisch Frauen und Mädchen von bewaffneten Gruppierungen entführt worden seien.
Folterungen und geheime Inhaftierungen
Folterungen waren nach wie vor weit verbreitet und wurden durch die anhaltende Praxis geheimer und unbestätigter Inhaftierungen begünstigt. Personen, denen man als »terroristische oder subversive Akte« bezeichnete Straftaten zur Last legte, wurden systematisch gefoltert. Beamte mit Polizeibefugnissen missachteten gesetzliche Garantien gegen Folterungen und geheime Inhaftierungen. In keinem Fall fanden umfassende, unabhängige und unparteiische Untersuchungen von Foltervorwürfen statt.
Im März wurde Mohamed Belkheir [Siehe Zeugnis in Infomappe 28, A.v. AW] der 42-jährige Geschäftsführer eines Restaurants, festgenommen und dem Vernehmen nach über einen Zeitraum von zehn Tagen hinweg im Gewahrsam des militärischen Sicherheitsdienstes in Ben Aknoun in Algier gefoltert. Er sagte aus, dass man ihn gefesselt und gezwungen habe, große Mengen schmutziges Wasser zu schlucken. Überdies sei er geschlagen und mit Elektroschocks gequält worden. Offenbar zwang man Mohamed Belkheir, ein »Geständnis« zu unterzeichnen, ohne ihm zu gestatten, es zu lesen. An-schließend wurde er angeklagt, einer »terroristischen« Gruppierung anzugehören und der Polizei Informationen vorzuenthalten. Mohamed Belkheir bestritt die Vorwürfe. Obwohl ihn ein Arzt bei seiner Überstellung in die Untersuchungshaft untersuchte, wurden weder die wahrscheinlichen Ursachen für die an seinem Körper festgestellten Verletzungen abgeklärt noch den Foltervorwürfen des 42-Jährigen nachgegangen.
Straflosigkeit
Es fanden keine umfassenden, unabhängigen und unparteiischen Untersuchungen der seit 1992 begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit statt, darunter Tausende extralegaler Hinrichtungen, vorsätzlicher und willkürlicher Tötungen von Zivilisten, Folterungen und Misshandlungen sowie Fälle von »Verschwindenlassen«. Konkrete Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Personen, die für im Berichtszeitraum oder in den Vorjahren von den Sicherheitskräften, vom Staat bewaffneten Milizen oder bewaffneten Gruppierungen begangene Menschenrechtsverstöße verantwortlich waren, blieben in den allermeisten Fällen aus.
Fälle von »Verschwindenlassen«
Während des gesamten Berichtsjahres kam es vermehrt zu öffentlichen Debatten über die »Verschwundenen«-Problematik. Farouk Ksentini, der Leiter der staatlichen Menschenrechtskommission (Commission nationale consultative de promotion et de protection des droits de l’homme – CNCPPDH), bekräftigte frühere Versprechungen, das Problem des »Verschwindenlassens« zu lösen, und traf sich mit Organisationen, die die Familien der »Verschwundenen« vertreten. Im September setzte Staatspräsident Bouteflika ein mit einem zeitlich befristeten Mandat ausgestattetes Gremium ein, das aus Farouk Ksentini als Vorsitzendem sowie sechs ernannten Mitgliedern der CNCPPDH besteht. Familien der »Verschwundenen« und Organisationen, die an dem Thema arbeiten, waren bei der Einrichtung des neuen Gremiums nicht konsultiert worden. Es soll als Schnittstelle zwischen den Familien der »Verschwundenen« und den Behörden dienen, ist jedoch nicht befugt, in Fällen von »Verschwindenlassen« zu ermitteln.
Da weitere Maßnahmen ausblieben, fanden auch keine Ermittlungen zur Aufklärung Tausender Fälle von »Verschwindenlassen« statt, von denen sich die meisten zwischen 1994 und 1998 ereignet hatten. Die Behörden bestritten nach wie vor, dass staatliche Agenten für ein Muster des »Verschwindenlassens« verantwortlich gewesen seien.
Kabylei
Obwohl eine 2001 durchgeführte offizielle Untersuchung hinsichtlich des Todes zahlreicher regierungsfeindlicher Demonstranten in der Kabylei zu dem Schluss gelangt war, dass Gendarmen im Zuge von Polizeieinsätzen gegen die Protestkundgebungen übermäßige tödliche Gewalt eingesetzt hatten, zogen die Untersuchungsergebnisse im Berichtsjahr keine weiteren Schritte nach sich. Die Behörden erklärten, dass sie begonnen hätten, den Opfern und deren Familien Entschädigung zu leisten, in den Fällen der über 100 durch Schüsse getöteten und der mehreren hundert verletzten Menschen scheinen jedoch keine Ermittlungen eingeleitet worden zu sein. Die Behörden gaben außerdem an, dass etwa 20 Gendarmen wegen missbräuchlichen Schusswaffeneinsatzes vor Gericht gestellt worden seien. Allerdings war nicht zu erfahren, ob man auch wegen der während der Polizeieinsätze gegen die Demonstrationen in der Kabylei verübten Menschenrechtsverletzungen Gendarmen zur Rechenschaft gezogen hatte.
Menschenrechtsverteidiger
Menschenrechtsverteidiger sahen sich bei ihrem Einsatz für die Menschenrechte weiterhin mit Einschränkungen konfrontiert. Manche wurden festgenommen und vor Gericht gestellt.
Die Rechte auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit blieben eingeschränkt.
Organisationen, die sich für Opfer des »Verschwindenlassens« engagierten, gelang es nach wie vor nicht, ihre Vereinigungen offiziell registrieren zu lassen. Obwohl ihre Demonstrationen im Großen und Ganzen toleriert wurden, kam es immer wieder zu Drangsalierungen und Einschüchterungsversuchen.
Im Juli wurden bei einer ihrer allwöchentlichen Demonstrationen vor dem Gerichtsgebäude in Oran mehrere Angehörige von »Verschwundenen« verhaftet und wegen Störungen der öffentlichen Ordnung mit Geldstrafen belegt.
Als positive Entwicklung sind der Freispruch und die Freilassung von Salaheddine Sidhoum zu verzeichnen, eines Arztes und Menschenrechtsverteidigers, der sich neun Jahre lang versteckt gehalten hatte. Nachdem er sich den Behörden gestellt hatte, hob ein Strafgericht in Algier im Oktober die 20-jährige Haftstrafe auf, die 1997 unter der Anklage, mit »terroristischen oder subversiven Aktivitäten« in Verbindung zu stehen, in Abwesenheit gegen Salaheddine Sidhoum verhängt worden war.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung
Infolge der erhöhten politischen Spannungen im Vorfeld der für 2004 angesetzten Präsident-schaftswahlen kam es zu weiteren Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Im August wurde das Erscheinen von sechs unabhängigen algerischen Zeitungen verboten. Die offizielle Begründung lautete, dass sie der staatseigenen Druckerei Geld schuldeten. Alle von ihnen hatten in den Vormonaten Artikel veröffentlicht, in denen von der Verwicklung hoher Regierungsbeamter in Korruptions- und andere Finanzskandale die Rede gewesen war. Mehrere Journalisten und Verleger wurden im Zusammenhang mit Artikeln oder Karikaturen der Beleidigung – unter anderem des Staatsoberhaupts – schuldig gesprochen und zu Bewährungs- oder Geldstrafen verurteilt.
Im November wurde Hasan Bouras, Journalist einer Lokalzeitung in der Provinz El-Bayadh, der örtliche Beamte der Korruption bezichtigt hatte, festgenommen und fast einen Monat lang in Haft gehalten. Ein Gericht befand ihn der Verleumdung schuldig und verurteilte ihn zu zwei Jahren Freiheitsentzug und einer Geldstrafe. Außerdem verhängte es gegen ihn ein fünfjähriges Berufsverbot. Im Berufungsverfahren im Dezember wurde lediglich die Geldstrafe aufrechterhalten, ihm allerdings zu-sätzlich auferlegt, die Kläger finanziell zu entschädigen.
Im Juli wurden mehrere ausländische Journalisten aus Algerien ausgewiesen. Dies geschah nach der Freilassung der beiden ehemaligen Anführer der verbotenen Islamistischen Heilsfront (Front Isla-mique du Salut – FIS), Abassi Madani und Ali Benhadj. Die Ausweisungen verfolgten den Zweck, die Berichterstattung in den internationalen Medien über die Freilassungen in Grenzen zu halten. Abassi Madani und Ali Benhadj waren 1992 nach einem unfairen Gerichtsverfahren zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden. Ihre Festnahme war nach dem Abbruch der ersten Mehrparteienwahlen in Algerien und dem Verbot der FIS erfolgt, die die Wahlen vermutlich gewonnen hätte. Bei ihrer Freilassung legte der Militärstaatsanwalt beiden Männern Einschränkungen ihrer bürgerlichen und politischen Rechte auf, offenbar ohne richterliche Verfügung.
Haftbedingungen
Im Zuge der laufenden Justizreform sollen sich die Haftbedingungen verbessert haben. Trotzdem boten diese weiterhin Anlass zu massiver Besorgnis. Die Ergebnisse einer vom Justizminister veran-lassten Untersuchung des Todes von etwa 50 Häftlingen nach Bränden in mehreren Gefängnissen im Jahr 2002 wurden nicht veröffentlicht. Während des gesamten Berichtsjahres trafen immer wieder Meldungen über Hungerstreiks von Häftlingsgruppen in verschiedenen Gefängnissen ein. Zahlreiche Insassen protestierten dagegen, dass man sie bereits über ein Jahr lang ohne Gerichtsverfahren in Haft hielt. Nach algerischem Recht dürfen Personen, denen man »als terroristische oder subversive Taten geltende Verbrechen« zur Last legt, bis zu 36 Monate lang in Untersuchungshaft gehalten werden.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) setzte seine Gefängnisbesuche fort, die es 1999 wieder aufgenommen hatte. Das IKRK konnte auch eine Reihe von Polizeistationen und Haftan-stalten der Gendarmerie besuchen. Allerdings erhielt keine unabhängige Organisation Zugang zu Mili-tärgefängnissen oder Haftanstalten unter der Verwaltung des militärischen Sicherheitsdienstes. Aus diesen Einrichtungen trafen weiterhin zahlreiche Meldungen über Folterungen, Misshandlungen und unmenschliche Bedingungen ein.
Menschenrechtsorgane der Vereinten Nationen
Die Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen für Fragen des Verschwindens von Personen, der UN-Sonderberichterstatter über extralegale, summarische oder willkürliche Hinrichtungen und der UN-Sonderberichterstatter über Folter erhielten 2003 keine Einreisegenehmigung für Algerien. In seinem 2003 erschienenen Bericht wies der Sonderberichterstatter über Folter darauf hin, dass ihm nach wie vor Meldungen zugingen, denen zufolge eine große Anzahl von Menschen Folterungen und anderen Formen von Misshandlung unterworfen sei. Der Berichterstatter erklärte überdies, dass »[die Regierung] die meisten Darstellungen mit dem Hinweis auf fehlende Anzeigen leugnet. Angesichts der Art der Vorwürfe, die [dem Berichterstatter] zur Kenntnis gebracht worden sind, ist es unsinnig, von den mutmaßlichen Opfern zu erwarten, dass sie offiziell Anzeige erstatten«. Er erinnerte die Regierung »an ihre Pflicht, in allen Fällen von Folterungen gründlich zu ermitteln, selbst wenn keine offizielle Anzeige vorliegt«.
Berichte und Missionen von amnesty international
Berichte
Algeria: Steps towards change or empty promises? (ai-Index: MDE 28/005/2003)
Algeria: Asylum-seekers fleeing a continuing human rights crisis (ai-Index: MDE 28/007/2003)
Missionen
In den Monaten Februar und März konnten Delegierte von amnesty international zum ersten Mal seit über zwei Jahren Algerien besuchen. Im Oktober nahm ein Vertreter der Organisation als Beobachter an dem Prozess gegen Salaheddine Sidhoum teil.