Algerien: Krieg, Revolten, Unrechtsstaat und sozialer Verfall (Teil 2)

Algerien

Krieg, Revolten, Unrechtsstaat und sozialer Verfall

Bericht zur Menschenrechtslage in Algerien 2002

Bericht erstellt von Salah-Eddine Sidhoum und Algeria-Watch, veröffentlicht von Algeria-Watch im März 2003

Zweiter Teil

Im Gedenken an Mahmoud Khelili, unseren Gefährten im Kampf für die Menschenwürde, mit dem Versprechen, seinen Kampf fortzuführen.

 

 

Inhalt

Resümee
1. Verletzungen individueller und kollektiver Rechte
A. Willkürliche Verhaftungen und Verschwindenlassen
B. Folter und Misshandlungen
C. Extralegale Hinrichtungen
D. Verletzungen des Versammlungs- und Demonstrationsrechts
E. Gewerkschaftsrechte
2. Die Justiz
3. Die Presse
4. Die Lage in den Gefängnissen
5. Politische Gewalt
6. Revolten und Proteste gegen die Lebensbedingungen
7. Der Kampf der Familien der Verschwundenen
8. Die Lage der Menschenrechtsaktivisten
Fazit

 

2. Die Justiz

Die algerische Justiz bildete schon immer ein Anhängsel der politischen Macht. Die Algerier, die nach der Unabhängigkeit und nach mehr als hundert Jahren kolonialen Unrechts auf gleiche Rechte hofften, wurden enttäuscht und warten noch immer, vierzig Jahre nach der Unabhängigkeit, auf eine gerechte Justiz und Gleichheit vor dem Recht.

Der Hoffnungsschimmer, den die Verfassung von Februar 1989 verhieß, die theoretisch die Gewaltenteilung und damit die Unabhängigkeit der Justiz vorsah, erwies sich als bloße Illusion.

Ende der achtziger Jahre machte der Regierungschef Mouloud Hamrouche folgende bittere Bemerkung: « Zurzeit kann der Richter nicht ungehindert arbeiten, da er der Polizei unterstellt ist. » Diese Worte fielen vor dem Krieg. Welche Worte ließen sich für diese Justiz während des Krieges finden? (22)

Die allgemein bekannte Instrumentalisierung der Justiz durch die politischen Machthaber seit der Unabhängigkeit ermöglichte dem Regime alle Stimmen des Protestes und jede Opposition gegen seine Politik zu unterdrücken.

Es gibt seit der Unabhängigkeit bis in die Gegenwart unzählige Beispiele für die Instrumentalisierung des Justizapparates zu politischen Zwecken. Es sei hier lediglich an fünf Fälle erinnert:

Im Oktober 1985 wurde der engagierte Sänger Lounis Aït-Menguellet verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Als Grund wurde ein Waffenfund in seiner Wohnung angegeben, bei dem es sich in Wirklichkeit um eine Sammlung handelte, die seine Wände schmückte. Eine billige Methode, um gegen seine Protestlieder gegen die Diktatur vorzugehen.
1985 wurden Bürger verhaftet und zu schweren Strafen verurteilt, deren Verbrechen darin bestand, eine Liga zur Verteidigung der Menschenrechte gegründet zu haben.
1985 wurden Bürger, Söhne von Märtyrern des nationalen Befreiungskrieges, verhaftet und wegen Gefährdung der Sicherheit des Staates verurteilt, weil sie zur Unabhängigkeitsfeier Blumensträuße auf die Gräber ihrer Eltern gelegt und eine Vereinigung der Kinder der Märtyrer gegründet hatten.
Im März 1992 wurde die FIS vom Verwaltungsgericht auf Betreiben des Regimes aufgelöst.
1998 wurde Ali Bensaad, Akademiker und linker Aktivist, vom Sondergericht von Constantine wegen « Terrorismus » in Abwesenheit zum Tode verurteilt auf der Grundlage eines von der politischen Polizei erstellten Konstruktes. Dieser Akademiker hatte bei einer politischen Veranstaltung die Umtriebe eines Generals und dessen « Beschlagnahme » der Stadt Constantine verurteilt. Er war vor seiner Verurteilung einem Liquidierungsversuch entgangen, und seine Familie war polizeilicher Belästigung ausgesetzt gewesen. Mohand Issad, Rechtsprofessor und Präsident der Kommission für die Reform der Justiz, sagte zu diesem Fall: « Die Affäre Bensaad ist ein ausgezeichnetes Beispiel. Eine außergewöhnliche Affäre. Eine Karikatur der Instrumentalisierung der Justiz. Das ist ein extremer Fall, und ich hoffe, dass es nicht noch schlimmer werden wird. » (23)

Viele nichtstaatliche Menschenrechtsorganisationen haben im Laufe dieses Krieges die Verhängung des Ausnahmezustandes am 9. Februar 1992, der bis heute in Kraft ist und immer mehr Befugnisse von zivilen in militärische Hände übergehen ließ, verurteilt. Dazu gehören die Praktiken einer Sonderjustiz, die von Sondergerichten auf der Grundlage des Sondergesetzes 92-03 vom 30. September 1992 gesprochen wird. Zehntausende von Bürgern wurden in ungerechten Prozessen und aufgrund von unter der Folter abgepressten Geständnissen zu langen Haftstrafen verurteilt. 1995 wurden die drei Sondergerichte zwar formell aufgelöst, aber das « anti-terroristische » Sondergesetz wurde in das Straf- und Strafverfahrensrecht aufgenommen, wodurch die Strafgerichtshöfe in Sondergerichte umgewandelt wurden.

Die ungeheuren Mängel des Justizapparates werden seit Jahren angeprangert und eine tiefgreifende Reform dieser Institution gefordert, um sie dem Zugriff durch die politische Macht zu entziehen. Der Staatspräsident ernannte Prof. Mohand Issad zum Präsidenten der Kommission für die Reform der Justiz (CNRJ) und beauftragte ihn mit der Ausarbeitung eines Berichts zur Reform der Justiz. Nachdem dieser Bericht dem Präsidenten überreicht worden war, wurde Prof. Issad zufolge « eine weitere Kommission, die sich nicht auf die Ergebnisse der CNRJ stützt, » eingerichtet. Prof. Issad konstatierte, dass « es keinen Willen zur Reform des Justizwesens gibt. » (24)

Der Präsident der offiziellen Beratungskommission für Menschenrechte ging bei mehreren Auftritten in den Medien so weit, die Mängel und Fehler des Justiuzapparates anzuprangern. Die Experten hoben insbesondere folgende Punkte hervor: die Voruntersuchung, die sich auf unter der Folter abgepresste Geständnisse stützt; die Garde-à-vue-Haft, die eigentlich eine geheime Haft ist; die systematisch verhängte Untersuchungshaft, obwohl sie die Ausnahme darstellen sollte; die Anerkennung der Unschuldsvermutung; die Bereitstellung von Einrichtungen für die Ausübung des Widerspruchsrechts, Alternativen zur Haft usw.; darüber hinaus sollten strukturelle Reformen auf die Revision des Gesetzes über das Statut des Obersten Rates des Richterstandes und des Richterstands abzielen, um die Unabhängigkeit der Richter zu garantieren und den Justizapparat in die Lage zu versetzen, den Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger zu garantieren.

Diese unrechtmäßigen Praktiken zogen sich durch das ganze Jahr 2002. Es seien hier einige Beispiele angeführt, die Menschenrechtsaktivisten betreffen:
Mohamed Hadj Smaïn, Menschenrechtsaktivist (LADDH), wohnhaft in Relizane und Vertreter der Liga LADDH in dieser Region, ist bekannt für seine offene Kritik an den Verbrechen der Miliz von Relizane. Er informierte die Öffentlichkeit und die Menschenrechtsorganisationen über die Existenz von Massengräbern und deren überstürzte Verlegung durch die Miliz zum Zeitpunkt des Besuchs der großen internationalen Menschenrechtsorganisationen in Algerien. Das brachte ihm eine Verleumdungsklage durch den Chef dieser Miliz ein. Er wurde am 5. Januar 2002 vom Strafgericht von Relizane zu zwei Monaten Gefängnis, 5000 Dinar Geldstrafe und 10 000 Dinar Entschädigungszahlung an jeden der neun Klagenden (Fergane und acht weitere Milizionäre) (25) verurteilt. Der vom Chef der Miliz angestrengte Prozess, der am 29. Dezember stattfand, wurde zu einem Prozess gegen die Miliz von Relizane. Zum ersten Mal beschuldigten Dutzende von Familienangehörigen der « Verschwundenen » und der Opfer extralegaler Hinrichtungen insbesondere den Chef der Miliz Hadj Fergane verantwortlich zu sein für die Entführungen und/oder Hinrichtungen ihrer Verwandten, obgleich viele Mitarbeiter der Sécurité militaire zugegen waren. Die Strafe von Hadj Smaïn wurde im Revisionsverfahren verschärft: 1 Jahr Gefängnis und 210 000 Dinar Geldstrafe. Dieses Gericht interessierte sich nicht für die Informationen von Mohamed Smaïn über die Massengräber und die extralegale Hinrichtung von etwa hundert Bürgern in der Region von Relizane.

Larbi Tahar, Menschenrechtsaktivist (LADDH), wohnhaft in Labiod Sidi Cheikh (Wilaya El Bayadh), wurde zusammen mit dreizehn weiteren Bürgern am 5. Oktober 2001 zum ersten Mal verhaftet, nachdem in der Stadt Unruhen ausgebrochen waren. Er allein wurde unter richterliche Aufsicht gestellt. Am 18. November 2001 wurde er zusammen mit acht weiteren Bürgern (die von der aufständischen Bevölkerung ausgewählt worden waren, um mit dem Chef der Daïra zu verhandeln) aufgrund einer von der Daïra von Labiod Sidi Cheikh erstatteten Anzeige wegen « falscher Anschuldigung und Verleumdung der Behörden » zum zweiten Mal verhaftet. Er und seine acht Leidensgenossen wurden in der Garde-à-vue-Haft einer erniedrigenden und entwürdigenden Behandlung ausgesetzt. Er wurde in Untersuchungshaft genommen, die anderen acht wurden freigelassen. Er trat am 14. Januar 2002 in einen unbegrenzten Hungerstreik, um gegen seine willkürliche Inhaftierung zu protestieren. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich dramatisch.
Am 23. März 2002 wurde er vom Gericht von El Bayadh wegen « Aufstachelung zu einer verbotenen Versammlung und Widerstand gegen die Staatsgewalt » zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Daraufhin trat er erneut in Hungerstreik und wurde aufgrund der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zunächst ins Krankenhaus in El Bayadh und am 29. März ins Krankenhaus in Saïda eingeliefert. Beim Revisionsverfahren am 30. April 2002 vor dem Gericht von Saïda wurde er zu sieben Monaten Gefängnis und 5000 Dinar Geldstrafe wegen « Aufstachelung zur illegalen Zusammenrottung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Zerstörung von Privateigentum » verurteilt.

Abderrahmane Khelil
, Mitglied der LADDH, und Mourad Sid Ahmed, Aktivist der FFS, wurden am 19. Mai 2002 in der Nähe der Universität von Bouzaréah im Zuge einer gegen die Studenten dieser Universität gerichteten Repressionswelle verhaftet und am 26. Mai vom Gericht von Bir Mourad Raïs wegen « Aufstachelung zur illegalen Zusammenrottung und Gefährdung der öffentlichen Ordnung » zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt.
Der Justizapparat leistete auch bei den Revolten, die sich in dreißig Wilaya und insbesondere in der Kabylei ereigneten, seinen Beitrag. Viele bei Demonstrationen festgenommene Bürger wurden wegen « Zusammenrottung und Zerstörung öffentlicher Einrichtungen » von einer Schnelljustiz verurteilt.

Unvollständige Liste der verurteilten Bürger:
Naït Ali Mourad, Choauche Ali und Smaïl Aziz, am 15. Mai 2002 in Tizi Gheniff (Tizi-Ouzou) von der Polizei verhaftet, wegen « Zusammenrottung und Aufstachelung zur Zusammenrottung, Zerstörung öffentlicher Einrichtungen und Behinderung einer Wahl » vom Gericht in Draa El Mizan am 20. Mai 2002 zu drei Monaten Gefängnis und 5000 Dinar Geldstrafe verurteilt.

Aouicha Arezki, am 16. Mai in Draa El Mizan (Tizi-Ouzou) von der Polizei verhaftet und wegen « Zusammenrottung, Aufstachelung zur Zusammenrottung und Zerstörung öffentlicher Einrichtungen » vom Gericht in Draa El Mizan am 20. Mai 2002 zu einem Monat Gefängnis und 5000 Dinar Geldstrafe verurteilt.

Ferhi Ahmed und Benayad Mohand, Mitglieder des Nationalrats der MDS (kommunistische Partei), am 12. April in Aïn Benian (Algier) von der Polizei verhaftet infolge eines verbotenen Marsches, vom Gericht in Chéraga (Algier) zu acht Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt.
Sonntag, 26. Mai: Prozess im Gericht von Bir Mourad Raïs gegen die Studenten, die am 18. und 19. Mai an der Universität in Bouzaréah (Algier) infolge der Protestdemonstration anlässlich des Besuches von Bouteflika verhaftet wurden. Fünf Studenten wurden zu zwei Jahren Gefängnis, zwölf weitere zu acht Monaten Gefängnis verurteilt und am folgenden Tag von Bouteflika begnadigt.

Am 21. Mai wurden in Draâ Ben Khedda (Tizi-Ouzou) vier Bürger, die sich an der Kampagne zum Boykott der Parlamentswahlen beteiligten, verhaftet und am 2. Juni zu sechs Monaten Gefängnis und 3000 Dinar Geldstrafe verurteilt. Fünf weitere Bürger wurden zu drei Monaten Gefängnis und 2000 Dinar Geldstrafe verurteilt, ein weiterer Bürger zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung.
Sechs junge Bürger, die bei den Unruhen in El Eulma (Sétif) am 24. Mai verhaftet wurden, wurden vom Gericht in El Eulma zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt.

Zwei Bürger, die am 19. Mai beim Marsch gegen die Repression verhaftet wurden, wurden zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Cherfaoui Abdelmajid, Student an der Universität von Bejaia, am 21. Mai bei Protestdemonstrationen gegen die Repression verhaftet, wurde am 3. Juni in erster Instanz vom Gericht in Bejaia zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Seine Verurteilung führte zu zahlreichen Proteststreiks an der Universität von Bejaia.

Sechs junge Bürger aus der Region von Seddouk wurden am 11. November vom Strafgericht von Akbou zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Sechs weitere Bürger aus Sidi Aich wurden zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Sie waren infolge von Protestdemonstrationen gegen die Ergebnisse der Kommunalwahlen am 10. Oktober verhaftet worden.

Neben dieser Justiz, die als Repressionsinstrument eingesetzt wird, um die Aktivisten der politischen Parteien und der Menschenrechtsorganisationen zum Schweigen zu bringen und um das Aufbegehren einer unzufriedenen Jugend im Keim zu ersticken, gibt es eine andere Justiz, die mit den Urhebern der Verbrechen größte Milde und Nachsicht walten lässt und die Entrüstung der Familien der Opfer und der Bevölkerung hervorruft. Zwei Beispiele seien angeführt:
Im März 2002 wurde in Constantine ein Staatsanwalt, der mit seiner « Dienstwaffe » den jungen Bürger Moncef Mériméche auf einem Parkplatz getötet hat, zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung und 2000 Dinar Geldstrafe verurteilt. Dieses Urteil rief den Protest der Bevölkerung von Constantine hervor, die dieses skandalöse Urteil verurteilte.

Der Gendarm Merabet Mestari, der im April 2001 in Beni Douala (Tizi-Ouzou) den jungen Guermah Massinissa ermordete (dieses Verbrechen war der Funken, der die Kabylei entflammte), wurde am 4. November 2002 vom Militärgericht von Blida zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Auf dieses Urteil reagierten die Familie des Opfers und die Bevölkerung mit Wut und Entrüstung.

Wir erinnern daran, dass die Schuldigen des Mordens im Frühling 2001 in der Kabylei noch nicht verurteilt worden sind, zumindest nicht öffentlich. Die Regierung erließ am 7. April 2002 hingegen ein Dekret über die « Opfer der Ereignisse im Zusammenhang mit der Bewegung für die Vollendung der nationalen Identität », das eine Entschädigung für die getöteten oder verwundeten Opfer bei den Zusammenstößen im Laufe der Ereignisse in der Kabylei von April 2001 bis April 2002 vorsieht. Dieses Vorgehen zielt darauf ab, die Opfer und ihre Familien zum Schweigen zu bringen und zu spalten, so wie es der Staat auch im Falle der Familien der « Verschwundenen » versucht (wir kommen später darauf zurück).

Es darf auch nicht vergessen werden, dass neben vielen anderen insbesondere zwei Affären seit mehr als vier Jahren noch nicht abgeschlossen sind: die Ermordung des Sängers Lounes Matoub (der Prozess wird immer wieder verschoben) und die Ermordung des jungen Hamza Ouali aus Tazmalt (Bejaia), die die Familie des Opfers dem Chef der örtlichen Miliz anlastet, und der noch nie behelligt wurde.

3. Die Presse

Die algerischen Zeitungen sind, wie andere Institutionen, Vereine und politische Parteien auch, dazu gezwungen, sich in sehr engen Schranken zu bewegen. Ihre Redefreiheit wird dosiert und bestimmt je nach den Bedürfnissen und Machtkämpfen der Clans, die sie jeweils repräsentieren, den klientelistischen Beziehungen, die die Presseorgane mit ihren « Schutzmächten » unterhalten und den Bemühungen mancher Journalisten, die sich von diesen Zwängen zu befreien versuchen. Echter investigativer Journalismus ist kaum möglich, da die algerische Presse vor allem eine Meinungspresse ist. Jedes Thema von noch so kleiner politischer Relevanz wird zum Gegenstand einer Polemik mit dem Ziel, mittels Enthüllungen einen der Clans oder einflussreichen Kreise anzugreifen oder zu diskreditieren. Die Frage der Menschenrechtsverletzungen wird im Rahmen dieser Logik behandelt.

Ein argloser Beobachter ist beeindruckt von der Vielfalt der algerischen Tageszeitungen, deren Zahl größer ist als in manchen europäischen Ländern. Auch der freie Ton, dem man hin und wieder begegnet, kann erstaunen. Erst nach einer gewissen Zeit der Beobachtung lässt sich erkennen, dass abgesehen von einigen Ausnahmen, die es immer geben kann, eine rote Linie vorgezeichnet ist, die nicht überschritten werden darf. Die erforderliche Kontrolle vollzieht sich in den Redaktionen selbst mittels einer Zensur, die der in den Jahren der Einheitspartei in nichts nachsteht. Viele Journalisten der damaligen Regierungspresse arbeiten nun bei der sogenannten unabhängigen Privatpresse als Leiter, Chefredakteure und Leitartikler. Auch wenn ihre Lage nicht immer einfach ist, genießen sie doch in einem nicht unerheblichen Maße Macht, Einfluss und Schutz.

Die einfachen Journalisten müssen unter absolut prekären Bedingungen arbeiten: extrem schlechte Bezahlung, unsichere Arbeitsbedingungen, Druck aller Art und Drohungen.
In den Jahren 1993-1996 wurden viele Journalisten getötet. Von offizieller Seite werden bewaffnete islamistische Gruppen dafür verantwortlich gemacht. Es gibt aber viele Indizien, die darauf hindeuten, dass dem Regime nahestehende Kreise in manche Morde verwickelt sind. Bis heute wurden keine ernsthaften Untersuchungen angestrengt, die erlaubt hätten, Täter und Auftraggeber dingfest zu machen. Fünf Journalisten sind verschwunden, drei Journalisten wurden von den Sicherheitsdiensten entführt. Andere Journalisten wurden zum Opfer willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung und Folter.

Auch wenn die Journalisten nicht mehr den gleichen Drohungen und Gefahren ausgesetzt sind wie in den vergangenen Jahren, so gibt es doch weiterhin Einschüchterungsversuche und gerichtlichen Druck vor allem seitens lokaler Potentaten, die sich auf die Macht der staatlichen Behörden, die sie repräsentieren, auf den von ihnen ausgeübten Einfluss oder auf ihre Nähe zu den Geheimdiensten und den « Importbaronen » stützen. Aus diesem Grund sind Untersuchungen über Korruptionsaffären kaum möglich.

Juristischer Kleinkrieg als Instrument der Repression

Zu diesen Schwierigkeiten kommen noch die neuen Zwänge hinzu, die sich aus der am 16. Mai 2002 vom Parlament verabschiedete Änderung des Strafrechts ergeben. Artikel 144 a sieht Haftstrafen von zwei Monaten bis zu einem Jahr und Geldstrafen von 50 000 bis 250 000 Dinar (750 bis 3750 €, ein einfacher Journalist verdient ca. 15 000 Dinar im Monat) vor wegen « Ehrverletzung des Staatspräsidenten mit Worten, die eine Verunglimpfung, Beleidigung oder Diffamierung darstellen, sei es mittels Text, Zeichnung oder Abgabe von Erklärungen unter Einsatz jedweden Mediums: Ton, Bild, elektronische oder digitale Verbreitung usw. ». Im Wiederholungsfall werden die Haft- und Geldstrafen « verdoppelt ». Die Strafverfolgung kann direkt von der Staatsanwaltschaft ohne Vorliegen einer Strafanzeige veranlasst werden. Diese Vorkehrungen erstrecken sich auch auf Vergehen gegenüber dem « Parlament oder einer seiner beiden Kammern, der ANP » (Nationale Volksarmee) und auch gegenüber jeder « anderen staatlichen Institution oder Körperschaft ».

Dieses Repressionsinstrument kodifiziert bereits bestehende Praktiken. Das Verteidigungsministerium erstatte Anzeige gegen Journalisten, die das Militär betreffende Themen behandelt haben.

Am 28. Januar 2002 wurde Salima Tlemcani, Journalistin der Tageszeitung El Watan, von der Kriminalpolizei von Algier wegen eines Artikels vom 11. Dezember 2001 vorgeladen, in dem sie über die Ernennungen beim DRS schrieb.

Am 18. Februar 2002 beantragte das Berufungsgericht von Algier eine Strafe von einem Jahr Gefängnis für Omar Belhouchet, Direktor der privaten Tageszeitung El Watan, der wegen « Beleididung eines staatlichen Organs » angeklagt und am 5. November 1997 in erster Instanz verurteilt worden war. Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren gegen ihn angestrengt wegen seiner Äußerungen in den Fernsehkanälen TF1 und Canal+ im September 1995 über die Ermordungen algerischer Journalisten. Belhouchet sagte damals: « Es gibt Journalisten, die dem Regime nicht genehm sind. Und es würde mich nicht wundern, wenn herauskäme, dass einige meiner Kollegen von Leuten des Regimes ermordet wurden. »

Mitte Oktober 2001 wurde Sid Ahmed Semiane, Journalist der Tageszeitung Le Matin, von Lotfi Nezzar verprügelt, weil er seinen Vater und ehemaligen Verteidigungsminister General Khaled Nezzar kritisiert hatte. Der Journalist erstattete Anzeige und wurde am 24. Januar 2002 von der Kriminalpolizei der Wilaya von Algier Abteilung « Beleidigung von Personen » vorgeladen. Lotfi Nezzar wurde wegen der durch seine Schläge verursachten zahlreichen Blutergüsse im Juni 2002 zu einer Geldstrafe von 1000 Dinar (12 €) verurteilt.
Der Direktor von Le Matin wurde auf eine Anzeige des Verteidigungsministeriums hin im Januar 2002 von der Kriminalpolizei nach der Veröffentlichung einer Karikatur und einer Rubrik über die Militärs zweimal vorgeladen.

Am 4. März beantragte das Gericht die Freilassung des Direktors von El Watan. Der Karikaturist der Tageszeitung Liberté, Dilem, wurde vom Gericht in Algier zu einer Geldstrafe von 20 000 Dinar (ca. 300 €) wegen einer am 16. Januar veröffentlichten Zeichnung über das Attentat auf den Präsidenten Boudiaf verurteilt. Nicht nur die Justiz, sondern auch die Leitungen der Zeitungen üben Druck auf die Journalisten aus: Ein Karikaturist der Tageszeitung Al Ahdath wurde wegen einer im Oktober 2002 veröffentlichten Karikatur des Präsidenten und der Militärs entlassen.

Bei diesem juristischen Kleinkrieg werden die Presseorgane nicht gleich behandelt. Während die « großen » Tageszeitungen, die auch im Ausland bekannt sind, den beschriebenen Belästigungen ausgesetzt sind, werden die « kleinen » ganz einfach suspendiert. So wurde das Erscheinen der Tageszeitung al Maou’id al djaza’iri Ende November 2001 verboten wegen der Veröffentlichung eines Artikels über die Ermordung des FIS-Führers Abdelkader Hachani im November 1999 und eines zweiten Artikels über das « Geständnis eines Terroristen », über das andere Zeitungen bereits berichtet hatten. Das Ministerium für Kultur und Kommunikation warf dem Leiter der Zeitung vor, Informationen veröffentlicht zu haben, die « dazu geeignet sind, die öffentliche Ordnung zu gefährden ». Die anderen Tageszeitungen haben übrigens gegen diese Suspendierung nicht protestiert.

« Der wahre Terrorismus heute ist die lokale Mafia » (26)
Mit dem zunehmenden Verfall der Autorität des Staates und seiner Institutionen treten lokale Potentaten, Notable, Milizenchefs, « Importbarone » und hohe Militärs an die Stelle des Rechts und üben Selbstjustiz. Das geht auch auf Kosten der lokalen Korrespondenten und der kleinen Zeitungen. Wenn sie sich nicht korrumpieren lassen, werden sie zu Opfern von Druck, Einschüchterungen, Drohungen und Angriffen.

Die Affäre des Korrespondenten von El Watan in Tébessa, Abdelhai Beliardou, erregte großes Aufsehen. Noch am Tag (20. Juli 2002) des Erscheinens seines Artikel über Saad Garboussi, den Präsidenten der Industrie- und Handelskammer von Nememchas, der den Aussagen eines « Reumütigen » zufolge « ein Finanzier des Terrorismus » und « an der Geldwäsche des Vermögens der GIA, das diese durch ihre Verbrechen und Erpressungen in den Regionen von Médéa und Jijel erbeuteten, beteiligt » gewesen sei, wurde Beliardou von letzterem und drei weiteren Beamten zunächst in seiner Wohnung, dann auf der Straße und schließlich im Keller des Wohnhauses des Präsidenten der Handelskammer zusammengeschlagen, um die Quelle dieser Information in Erfahrung zu bringen. Er wurde nach mehreren Stunden freigelassen. Am 21. Juli erstattete die Redaktion von El Watan Anzeige gegen Herrn Garboussi, der vom Staatsanwalt und Ermittlungsrichter stundenlang verhört und anschließend vorläufig freigelassen wurde. Am 19. Oktober versuchte Herr Beliardou sich durch die Einnahme von Säure das Leben zu nehmen. Er verstarb am 20. November infolge der durch die Säure herbeigeführten schweren inneren Verletzungen.

Aber nicht nur die Magnaten der Korruption haben es auf die Journalisten abgesehen. Letztere wurden auch zu Opfern der polizeilichen Repression bei den Revolten und Demonstrationen in Zusammenhang mit den Ereignissen in der Kabylei, obwohl sie eindeutig als Journalisten zu erkennen waren. Am 13. März 2002 wurde bei einer Versammlung auf offener Straße Lotfi Bouchouchi, Korrespondent des Fernsehsenders TF1, durch eine von einem Gendarmen gezielt auf ihn abgefeuerte Tränengasgranate schwer verletzt. Am 14. März 2002 wurden auf einer von der FFS organisierten Demonstration mehrere Journalisten verhaftet, in einem Kommissariat verhört und auf der Straße misshandelt. Bei den Unruhen im Mai und Oktober 2002 in der Kabylei wurden mehrere Journalisten verprügelt.

Die lokalen Korrespondenten sind immer wieder Drohungen und Belästigungen ausgesetzt, wenn sie die Korruption, die Erpressung und die Beziehungen zwischen dem Terrorismus und der Mafia anzuprangern wagen. Nur in seltenen Fällen kommt die Justiz den Anzeigen von Journalisten, Polizisten, Richtern und lokalen Politikern nach, entweder weil sie um ihr Leben fürchtet oder weil sie von diesen Baronen korrumpiert ist. Daher bleibt den Journalisten oftmals nur der Rückgriff auf die Selbstzensur.


4. Die Lage in den Gefängnissen

Die Lage in den algerischen Gefängnissen hat sich seit 1992 dramatisch verschlechtert infolge der Massenverhaftungen von politischen Gefangenen, die zu einer seit dem nationalen Befreiungskrieg nicht gekannten Überfüllung führten. Ehemalige Kämpfer im Befreiungskrieg, die sowohl mit den kolonialen Gefängnissen als auch mit den Kerkern des « zweiten Algerienkrieges » Bekanntschaft machten, geben ohne Umschweife zu verstehen, dass sie die kolonialen Haftbedingungen bei weitem vorziehen würden.

Die Aussagen eines Medizinstudenten und ehemaligen politischen Gefangenen in den achtziger Jahren im Kerker von Tazoult verdeutlichten bereits schmerzvoll die grauenhaften Haftbedingungen, die von den höchsten Instanzen der damaligen Zeit gedeckt wurden. (27)

Das Fehlen rechtsstaatlicher Verfahren, die Sondergesetze, der Eifer mancher Gefängnisleiter und Wachleute, die unter dem Schutz der politischen Polizei agieren, sowie das Fehlen einer unabhängigen Instanz zur Beobachtung der Haftanstalten öffnen der Willkür Tür und Tor, der die Häftlinge (ob politisch oder nicht) schutzlos ausgeliefert sind.

Über die Gefängnisse, ihre Zahl und die der Häftlinge gibt es je nach Quelle unterschiedliche Angaben, was bereits zeigt, wie schwierig eine Einschätzung der Lage ist. In Algerien gibt es 145 Gefängnisse (28). Die überwiegende Zahl der Gefängnisse stammt aus der Kolonialzeit. Das Gefängnis von Serkadji stammt noch aus der osmanischen Zeit. Die Haftbedingungen sind unmenschlich, ja grauenvoll. Die Enge, die Überfüllung und der unerträgliche Zustand der sanitären Einrichtungen sind verantwortlich für zahllose Tragödien.

Der seit elf Jahren andauernde Krieg hat die Lage weiter verschlechtert. Seit dem Staatsstreich im Januar 1992 ereigneten sich in den algerischen Gefängnissen etliche Meutereien (Serkadji am 14. November 1992 und 30. Mai 1993), die mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wurden, eine spektakuläre Massenflucht unter sehr dubiosen Umständen (Tazoult im März 1994 mit nahezu 1000 Ausbrechern, von denen viele in der Folge bei Durchkämmungsoperationen getötet wurden) und schreckliche Massaker (Berrouaghia im November 1994 mit 49 Toten und Serkadji im Februar 1995 mit über 100 Toten).

In den algerischen Gefängnissen, deren Kapazität zum damaligen Zeitpunkt auf 28 000 Plätze ausgelegt war, waren 1996, mitten im Krieg, 46 000 Häftlinge inhaftiert. 2002 waren es 40 000 Häftlinge bei einer Gesamtkapazität von 34 173 Plätzen nach offiziellen Angaben. Der damalige Justizminister Ahmed Ouyahia gab allerdings an, dass die Aufnahmekapazität der Gefängnisse von 25 569 in 1992 auf 38 173 Plätze gestiegen sei. Zu der Zahl der Häftlinge machte er keine Angaben. (29)

Die Überfüllung der Gefängnisse in Zahlen anhand von Beispielen (2002):

Gefängnis Aufnahmekapazität Zahl der Häftlinge
El Harrach 2100 2800
El Bouni (Annaba) 1000 1600
Sidi Bel Abbés 600 830
Chelghoum Laid (Constantine) 115 233
Serkadji 800 1300
Blida 318 766
Boufarik 120 194

Die Gesamtbelegungsquote der Gefängnisse in Algerien beträgt offiziellen Angaben zufolge 138 % (30).

Jedem Häftling stand 2002 ein Betrag in Höhe von 50 Dinar (0,7 €) pro Tag für Nahrungsmittel zur Verfügung, was bei weitem nicht ausreicht.

Die medizinischen Bedingungen sind katastrophal. Nach offiziellen Angaben kommt durchschnittlich auf 300 Häftlinge ein Arzt mit extrem begrenzten Mitteln, ja in manchen Fällen ohne jegliche Mittel. Sechzig (60) Haftzentren verfügen nicht über einen vollzeitbeschäftigten Arzt. Nur 17 Gefängnisse verfügen über einen Zahnarzt mit zumeist defekten Zahnarztstühlen und ohne Arzneimittel zur Behandlung von Karies und zur Betäubung bei Operationen. In 89 Zentren gibt es keine medizinischen Hilfskräfte.

Viele schwerkranke Häftlinge erhalten keine medizinische Behandlung. Beispielhaft sei der Fall des Häftlings Mekrini Abdelhakim im Gefängnis von Serkadji (Algier) angeführt. Er leidet an Niereninsuffizienz. Sein Rechtsanwalt richtete in einer Pressemitteilung vom 7. Februar 2002 einen dringenden Appell an die Behörden:
« Ein Mensch stirbt im Gefängnis von Serkadji, weil er die erforderliche medizinische Behandlung nicht erhält. Mekrini Abdelhakim, der an einer starken Nierenentzündung leidet, wurde trotz seines kritischen Zustandes die Einweisung ins Krankenhaus nicht genehmigt. Da die mündlichen und schriftlichen Anträge seiner Verteidigung bei der Gefängnisverwaltung wie auch beim Justizministerium (siehe die Einschreibbriefe vom 1. Juli 2000 und 11. Februar 2001) ohne Ergebnis blieben, richten wir uns nun an die Öffentlichkeit mit der Warnung über den möglichen tödlichen Ausgang, der dieser der Zuständigkeit des Gerichts unterliegenden Person mit allen rechtlichen Konsequenzen droht. »

Angeführt sei auch der Fall von Ali Benhadj, Politiker und politischer Gefangener, der im Juli 1992 zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde und unter unmenschlichen Bedingungen im Militärgefängnis von Blida inhaftiert ist. Da er in den Augen des Regimes als einer der beiden gefährlichsten Oppositionspolitiker gilt, ist er besonders harten Haftbedingungen ausgesetzt (keine Besuche von Familienangehörigen, keine Spaziergänge, brutale Behandlungen durch seine Wächter, Isolationshaft usw.), die mehrfach von seiner Familie und seinen Rechtsanwälten verurteilt wurden. Er leidet seit zwei Jahren an Rheumatismus und chronischer Dorsalgie, ohne behandelt zu werden. Dazu kommt noch seine schlechte psychische Verfassung als Resultat der vollständigen Isolation seit nahezu zwölf Jahren. Die UNO-Arbeitsgruppe zu willkürlichen Verhaftungen stellte in einem im März 2002 veröffentlichten Bericht fest, dass die Inhaftierung von Herrn Benhadj « willkürlich ist, da sie gegen Artikel 9 und 10 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung und gegen Artikel 9 und 14 des Internationalen Pakts über zivile und politische Rechte verstößt. (31) »

Sechs politische Gefangene, Aktivisten der Protestbewegung in der Kabylei (Belaïd Abrika, Tahar Allik, Rachid Allouache, Mouloud Chebheb, Lyès Makhlouf et Mohamed Nekkah) traten am 3. Dezember 2002 im Gefängnis von Tizi-Ouzou in Hungerstreik, um gegen ihre willkürliche Verhaftung, die unmenschlichen Haftbedingungen und die Langsamkeit des Justizapparates zu protestieren. Sie wurden wegen ihrer Aktion in Isolierzellen gesperrt trotz der Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes, der eine medizinische Betreuung erfordert hätte. Belaïd Abrika wurde in seiner Zelle von Wächtern angegriffen, obwohl er äußerst schwach war. Die starke Mobilisierung der nationalen wie der internationalen Öffentlichkeit führte zu keiner Änderung der Haltung des Regimes gegenüber diesen Gefangenen. Sie beendeten ihren Hungerstreik nach 41 Tagen am 12. Januar 2003.

2002 flammten außerdem zahlreiche Revolten in den Gefängnissen auf, die zum Erstaunen vieler Beobachter praktisch gleichzeitig in mehreren Wilaya stattfanden. In den Monaten April und Mai kam es zu einer Serie von « Meutereien » mit anschließenden Bränden in mehreren algerischen Gefängnissen (Chelghoum Laid, Serkadji, El Harrach, Constantine, Annaba, Sidi Bel Abbes, Bechar, Relizane…) mit 45 Toten und 169 Verletzten (oftmals mit Verbrennungen).
Die offizielle Propaganda scheute nicht, einige Wochen nach der Serie von Bränden in den Gefängnissen im offiziellen Fernsehsender Häftlinge vorzuführen, die Billard spielten und an Computern saßen.

Gefängnisse, in denen 2002 Meutereien stattfanden:
2. April 2002, Gefängnis in Chelghoum Laid (Constantine): 20 Häftlinge getötet und 22 verletzt beim Brand eines Schlafsaales. Im Saal 4 (35 m2, vorgesehen für 15 Personen) hielten sich zum Zeitpunkt des Brandes 42 Häftlinge auf.

30. April 2002, Gefängnis in Serkadji (Algier): 23 Häftlinge bei lebendigen Leibe verbrannt bei einem Brand in Saal 10, der nach offiziellen Angaben von den Häftlingen selbst gelegt wurde. Zuvor hatte ein neunzehnjähriger Häftling, der von Wächtern angegriffen wurde, versucht, sich das Leben zu nehmen. Daraufhin gründeten die Familien der Opfer ein Kollektiv und forderten eine Untersuchung der genauen Umstände des Todes ihrer Familienangehörigen. Der Staat gewährte den Familien eine finanzielle Entschädigung, aber die Umstände des Todes ihrer Kinder wurden nie aufgeklärt.

30. April 2002, Gefängnis in El Harrach (Algier): Selbstmord eines Häftlings. Er soll sich aus acht Metern Höhe hinabgestürzt haben.

4. Mai 2002, Gefängnis in El Harrach (Algier): 25 Häftlinge verbrannten bei einem Brand, der nach offiziellen Angaben von einem Häftling gelegt wurde.

5. Mai 2002, Gefängnis Boussouf in Constantine: 48 Häftlinge verbrannten infolge einer Meuterei. Die Häftlinge zündeten aus Protest gegen ihre Haftbedingungen ihre Bettwäsche an.

6. Mai 2002: Meuterei in den Gefängnissen in Aïn M’lila (Oum El Bouaghi) und in El Bouni (Annaba) aus Protest gegen die Haftbedingungen.

8. Mai 2002, Gefängnis in Sidi Bel Abbes: Meuterei. Die Häftlinge steckten ihre Bettwäsche in Brand, 1 Toter und 3 Verletzte.

9. Mai 2002, Gefängnis in Bechar: Meuterei, Häftlinge stecken aus Protest gegen die Haftbedingungen ihre Zellen in Brand, 54 Verletzte.

9. Mai 2002, Gefängnis in Relizane: Friedlicher Protest der Häftlinge mit der Forderung nach einer Verbesserung der Haftbedingungen. Keine Opfer.

18. November 2002, Gefängnis in Tebessa: Brand, 20 Häftlinge werden wegen Erstickungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert.


5. Politische Gewalt

Algerien erlebte Ende 2002 das elfte Jahr des Krieges und des Ausnahmezustandes. Attentate, Hinterhalte, Bomben, Massaker, Durchkämmungsoperationen, Bombardierungen, Verhaftungen und Folterungen lasten weiterhin schwer auf dem Leben der Bürger mit ihrem hohen Zoll an Toten und Verletzten und den Strömen von Blut und Tränen.

34 von 48 Wilaya waren von dieser politischen Gewalt betroffen, d.h. nahezu 71 % des Landes.
Bei 600 Fällen politischer Gewalt und militärischer Operationen waren folgende Wilaya am stärksten betroffen: Boumerdes (68 Fälle), Tizi-Ouzou (63 Fälle), Bouira (48 Fälle), Ain Defla (39 Fälle), Alger (36 Fälle), Jijel (30 Fälle), Chlef (29 Fälle), Medea (27 Fälle), Blida (26 Fälle), Skikda (24 Fälle), Batna (22 Fälle), Tiaret (19 Fälle), Relizane (18 Fälle), et Tipaza (17 Fälle).

Die unvollständige Liste der Opfer der nationalen Tragödie verlängerte sich nach Angaben der algerischen Presse zufolge um nahezu 1500 Bürger (32). Knapp 900 Bürger wurden verletzt, darunter 10 mit schweren Behinderungen (Amputationen oder Lähmungen infolge von Explosionen von Bomben oder Minen).

Ein Großteil der Opfer dieses Krieges sind weiterhin Zivilisten. 630 Personen ließen ihr Leben, d.h. 44 % der Fälle (die zwei anderen sind Militärs und bewaffnete Gruppen). Auch die Zahl der Verletzten ist sehr hoch: 479 Fälle, d.h. 54 % der Gesamtzahl der Verletzten.

Die Verluste auf Seiten des Militärs und der bewaffneten Gruppen sind etwa gleich hoch: 375 Militärs, Polizisten und Milizionäre (d.h. 27 %) und 410 Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen (d.h. 29 %).

Die Zahl der verletzten Militärs bleibt hoch: 394 Fälle, d.h. 45 % der Gesamtzahl der Verletzten. In den Reihen der bewaffneten Gruppen gibt es hingegen wenig Verletzte: 12 Fälle nach Presseangaben, d.h. 1 %.

Die monatliche Durchschnittsrate von Toten liegt bei 117: darunter 52 Zivilisten, 31 Mitglieder von Sicherheitsdiensten und 34 Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen.

In 2002 gab es über 400 Fälle politischer Gewalt (Attentate, Bomben, Hinterhalte, falsche Straßensperren mit Toten, Massaker usw.).

Es gab knapp 170 Fälle von militärischen Operationen und Durchkämmungsoperationen oftmals in Verbindung mit Bombardierungen von Maquis durch Artillerie und Kampfhubschrauber in mehreren Regionen des Landes.

Der andauernde Krieg, die Verteilung von Waffen an bestimmte Bürger und die Vermehrung der bewaffneten Gruppen in einem Klima der sozialen Auflösung und des Unrechtsstaates führten zum Entstehen mafioser Gruppen und Verbrecherbanden, die sich hinter den bewaffneten Oppositionsgruppen versteckten und mittels falscher Straßensperren, Razzien in abgelegenen Dörfern und Viehdiebstahl oftmals in Verbindung mit der Ermordung von Viehhirten die Bevölkerung erpressten und ausplünderten. Diese Kriminalität vergrößerte die ohnehin bestehende Unsicherheit. Die Presse berichtete von mehreren Fällen dieses durch den Krieg beförderten Banditenunwesens. Als Beispiele seien folgende Fälle angeführt:

Im Januar 2002 hob die Polizei eine Bande von Autodieben in der Region von Tizi-Ouzou aus. Die Bande wurde von zwei Milizionären angeführt, die sich als islamistische Widerstandskämpfer ausgaben und falsche Straßensperren errichteten, an denen sie die Fahrzeuge an sich brachten (33).

Im Februar 2002 wurde in Fraihia (Mascara) ein Milizionär verhaftet, der sich auf Viehdiebstahl spezialisiert hatte und sich als islamistischen Widerstandskämpfer ausgab (34).

Im Februar 2002 wurden in Draa El Mizan (Tizi-Ouzou) acht Banditen verhaftet, die sich als islamistische Widerstandskämpfer ausgaben. Sie hatten sich auf falsche Straßensperren und die Erpressung von Autofahrern spezialisiert. Die Sicherheitsdienste sollen bei ihnen Militärkleidung und falsche Bärte gefunden haben (35).

Vier Milizionäre, die sich als islamistische Widerstandskämpfer ausgaben, wurden am 31. Dezember 2002 von der Polizei überrascht, als sie eine Straßensperre auf der Straße von Les Issers nach Chabet El Ameur (Boumerdés) errichteten, um Bürger zu erpressen. Drei von ihnen konnten die Flucht ergreifen. Der vierte wurde beim Fluchtversuch schwer verletzt und verhaftet (36).

Eine Bande, die sich als Gruppe von islamistischen Widerstandskämpfern ausgab, wurde im Mai 2002 in Tizi-Ouzou ausgehoben. Sie hatte sich auf falsche Straßensperren und die Erpressung von Autofahrern in der Region von Bouzeguène, Aïn El Hammam, Freha und Ouagenoun spezialisiert (37).

Ende August 2002 wurden 17 Personen von den Sicherheitsdiensten in Haï Zitoun (Saïda) verhaftet. Sie gaben sich als islamistische Widerstandskämpfer aus und erpressten Bürger an falschen Straßensperren (38).

Die Massaker an der schutzlosen Bevölkerung in abgelegenen Gegenden, die weder Alte noch Frauen und Kinder verschonen, fanden auch in 2002 ihre Fortsetzung mit 56 Fällen nach Berichten der Sicherheitsdienste und der Privatpresse. Bei diesen barbarischen Verbrechen wurden 2002 nahezu 370 Menschen, darunter 70 Kinder, ermordet.

In Ermangelung ernsthafter Untersuchungen ist es fast unmöglich, die Täter dieser Verbrechen gegen die Menschheit zu ermitteln, zumal sich die offiziellen Kommuniqués und die Presse darauf beschränken, die « GIA » als Verantwortliche zu benennen, während die GIA sich schon seit Jahren nicht mehr zu diesen Verbrechen bekennt. Obgleich die GIA in der Vergangenheit die Verantwortung für bestimmte Fälle übernahm, war es doch in der Mehrzahl der Fälle unmöglich, die Täter und Auftraggeber zu identifizieren. Die Echtheit der Schreiben dieser Gruppe wurde niemals wirklich überprüft. Und die Angreifer bzw. die mutmaßlichen Angreifer – wenn sie denn verfolgt wurden – wurden zumeist ohne jede Untersuchung über ihre tatsächliche Verwicklung in diese Verbrechen getötet. In den wenigen Fällen, bei denen es zu Verhaftungen und Verurteilungen durch die Justiz kam, geschah dies auf der Grundlage von schlampigen Untersuchungen und Schnellverfahren ohne wirkliche Ermittlung der Schuldigen.

Die Undurchsichtigkeit verdankt sich auch der Vervielfachung der bewaffneten Akteure. Einerseits begehen die islamistischen bewaffneten Gruppen weiterhin Morde und Massaker, aber andererseits gibt es auch Tausende Milizionäre, von mächtigen Kreisen gedungene Söldner und Banditen, die im Rahmen von Machtkämpfen zwischen den Clans des Regimes im Dienste wirtschaftlicher Interessen oder persönlicher Abrechnungen die Zivilbevölkerung angreifen.
Die Frage nach den Verantwortlichen für die Massaker ist in Algerien immer noch ein Tabu. Wer Beweise und Indizien sammelt, die offizielle und autorisierte Version in Frage stellt sowie der Existenz von Todesschwadronen und der Manipulation der bewaffneten Gruppen durch die algerischen Sicherheitsdienste nachgeht, wird als « Komplize des Terrorismus » gebrandmarkt. Allerdings gibt es immer mehr Aussagen von Offizieren, die von der direkten oder indirekten Verwicklung des DRS (Geheimdienst, ehemalige Sécurité militaire) und der Spezialkräfte der Armee in die Massaker berichten. Seit Jahren erheben die Opposition und Menschenrechtsorganisationen die Forderung nach einer unabhängigen internationalen Untersuchungskommission, die allerdings vom algerischen Regime mit dem Verweis auf Einmischung in innere Angelegenheiten kategorisch abgelehnt wird.

Einige Fälle von Massakern in 2002 (39):
2. Februar 2002: An einem « Rezarza » genannten Ort (in der Nähe von Médéa) wurden zwölf Bürger getötet und neun verletzt.

4. Februar 2002: In Sidi Lakhdar (Aïn Defla) wurden an einer von Männern in Militärkleidung errichteten Straßensperre neun Bürger getötet und vier verletzt.
Dreizehn Mitglieder der Familie eines Milizionärs (Familie Serdoun) wurden von einer bewaffneten Gruppe in Sidi Amar (Aïn Defla) getötet.

19. April 2002: Sieben Mitglieder einer Familie (Chaïbi), darunter vier Kinder, wurden von einer bewaffneten Gruppe in der Nähe von Sidi Akacha (in der Nähe von Ténès, Aïn Defla) getötet und vier weitere verletzt. Der Vater, der einer lokalen Miliz angehört, überlebte.

24. April 2002: 16 Personen, die zwei Nomadenfamilien (Dekia und Rabhi) angehörten, wurden von einer bewaffneten Gruppe an einem Dhaïet Nabla genannten Ort (Tiaret) ermordet, darunter neun Kinder und vier Frauen.

1. Mai 2002: Elf Personen aus den Familien Salim und Bekkar wurden von einer bewaffneten Gruppe im Viertel Benseghir in Tiaret ermordet.
20 Personen aus den Familien Rakhrakh, Bengasmia und Djaâdi wurden von einer bewaffneten Gruppe in Ksar Chellala (Tiaret) ermordet.

29. Mai 2002: 23 Personen aus Nomadenfamilien (Chouli und Nayène) wurden von einer bewaffneten Gruppe in Sendjas (Chlef) ermordet.

11. Juni 2002: 12 Personen, die mit einem Bus unterwegs waren, wurden von einer bewaffneten Gruppe an einer Straßensperre in Medea ermordet, zehn weitere verletzt.

28. Juni 2002: 15 Personen wurden, nachdem ihr Bus an einer Straßensperre beschossen worden war, in Eucalyptus (El Harrach) ermordet.

5. Juli 2002: Explosion einer Bombe auf dem Markt von Larbaâ (Blida), 38 Tote und über 50 Verletzte.

9. Juli 2002: 10 Personen, darunter fünf Kinder, aus der Familie Boualem wurden von einer bewaffneten Gruppe in einem Viertel von Tiaret ermordet und zwei weitere verletzt.

18. Juli 2002: 10 Personen, darunter eine fünfköpfige Familie (Medjadji), wurde von einer bewaffneten Gruppe in Sobha, in der Nähe von Boukadir (Chlef), ermordet.

15. August 2002: 26 Bürger aus drei Familien (Guenfoud, Rabhi und Brahimi), darunter 13 Kinder, wurden von einer bewaffneten Gruppe im Weiler El Khodr in der Gemeinde Harchoun (Chlef) ermordet.

12. September 2002: 11 Bürger wurden von einer bewaffneten Gruppe an einer Straßensperre in Bouhdoud in der Nähe von Sid Lakhdar (Aïn Defla) ermordet, darunter neun Frauen und drei Kinder.

1. Oktober 2002: 13 Schüler einer Koranschule der Gemeinde El Hadjadj (Chlef) wurden von einer bewaffneten Gruppe in Militärkleidung durch Schüsse ermordet.

24. Oktober 2002: 21 Bürger aus der Familie Akil wurden von einer bewaffneten Gruppe im Weiler M’Rabtine in der Nähe von Boukadir (Chlef) ermordet und vier weitere verletzt, darunter 8 Kinder und 8 Frauen.

29. Oktober 2002: Acht Personen aus der Familie Ben Amer wurden von einer bewaffneten Gruppe im Weiler Sidi Bouaissi in der Nähe von Sidi Okacha (Chlef) ermordet, darunter zwei Cousins, die Milizionäre waren, Frauen und Kinder.

6. Revolten und Proteste gegen die Lebensbedingungen

Die schlimmen Ereignisse in der Kabylei im Frühjahr 2001 und ihre tragische Bilanz (ca. 120 Tote) lösten im ganzen Land eine Serie von Revolten und Protesten gegen die Ungerechtigkeit, die Untätigkeit der Regierenden und die schwindelerregende Verschlechterung der Lebensbedingungen aus. Die Revolten setzten sich 2002 fort.

Die Bevölkerung, die die erbärmlichen Lebensbedingungen nach über zehn Kriegsjahren und angesichts der Untätigkeit der Regierung nicht länger zu ertragen gewillt war, ging schließlich auf die Straße, um ihrem Unmut Luft zu machen. Eine Unterbrechung der Stromversorgung, die die beschäftigungslosen Jugendlichen daran hindert, ein Fußballspiel im Fernsehen zu sehen, eine falsche Entscheidung eines Schiedsrichters im Stadion, die Belästigung einer jungen Frau durch einen Gendarmen auf der Straße oder ein Verkehrsunfall können unter den jetzigen Bedingungen in Algerien eine Revolte auslösen, in deren Verlauf staatliche Gebäude geplündert, verwüstet und in Brand gesteckt werden. Die Bürger sind enttäuscht und entrüstet über das Nichtstun und die Nachlässigkeit der Regierenden auf allen Ebenen. Städte und Dörfer ohne Beleuchtung, Wassersperre und Wasserknappheit über mehrere Tage, ja sogar Wochen, fehlende Transportmittel, ungerechte Verteilung von Wohnungen und ständige Arbeitslosigkeit tragen zur Explosion einer Bevölkerung bei, die aller Bezugs- und Orientierungspunkte beraubt wurde.
2002 gab es etwa 600 Revolten und andere Proteste in 30 Wilaya (also in 62,5 % aller Wilaya). Ein Großteil dieser Proteste fand statt in den Wilaya Tizi-Ouzou (39,9 %), Béjaïa (28,5 %), Bouira (7,5 %), Boumerdés (6 %), Algier (2,9 %) und Skikda und Sétif (2,2 %).

Bei diesen Revolten kam es im ganzen Land zu 12 Toten und 1100 Verletzten. Die Sicherheitsdienste nahmen mehr als 560 Festnahmen vor.

Es gab auch erhebliche Sachschäden insbesondere an öffentlichen Einrichtungen und Gebäuden (Rathäuser, Daïra, Finanzämter, Schulen, Gemeindeparks, Verwaltungsgebäude der Gas- und Wasserversorgung) und an Sitzen politischer Parteien (37 Sitze, darunter 21 der FFS).

Unvollständige Liste der bei Revolten und anderen Protesten gegen die Lebensbedingungen getöteten Bürger (in chronologischer Ordnung):
Lyés Bettar, 17 Jahre, aus Tiliouacadi in der Nähe von Sidi Aïch (Béjaïa), am 21. März 2002 durch eine Kugel am Kopf schwer verletzt bei einer Revolte in Chemini (Béjaïa), erlag seinen Verletzungen im Krankenhaus von Tizi-Ouzou.
Rachid Bellahcène, 14 Jahre, Schüler, am 24. März 2002 schwer verletzt bei einer Revolte in Seddouk (Béjaïa), erlag seinen Verletzungen beim Transport ins Krankenhaus.
Idriss Benattou, 30 Jahre, verheiratet, schwer verletzt durch eine Tränengasgranate und von einem Polizeilastwagen angefahren am 24. März 2002 bei einer Revolte in Seddouk (Béjaïa), erlag seinen Verletzungen am 30. März im Krankenhaus von Tizi-Ouzou.
Mohamed Rihane, 18 Jahre, aus Almabouamane in der Nähe von Timizart (Tizi-Ouzou), schwerverletzt am Kopf durch Schläge von Sicherheitsdiensten am 26. März 2002 in Fréha (Tizi-Ouzou), erlag am nächsten Tag seinen Verletzungen (Gehirnblutungen).
Mohand El Hocine Naït Lamara, 19 Jahre, Schüler, aus dem Dorf Abouhassant in der Nähe von Aïn El Hammam (Tizi-Ouzou), wurde am 28. März 2002 bei Zusammenstößen in der Nähe der Gendarmeriebrigade in Abi Youcef (Aïn El Hammam) durch Schüsse getötet.
Azeddine Yousfi, 36 Jahre, verheiratet, Vater von zwei Kindern, wohnhaft in Tassaft in der Nähe von Beni Yenni (Tizi-Ouzou), wurde in der Nähe der Gendarmeriebrigade in Tassaft am 29. März 2002 durch eine Tränengasgranate getötet.
Djamel Tounsi, 25 Jahre, aus Mizrana (Tizi-Ouzou) wurde am 1. April 2002 in Tigzirt bei Zusammenstößen mit Gendarmen durch eine Stichwaffe getötet.
Lahcène Sebas, 15 Jahre, Schüler, wohnhaft in Tizi N’Braham in der Gemeinde Bouandas (Sétif), wurde am 30. Mai 2002 bei einer Demonstration gegen die Parlamentswahlen erschossen.
Karim Amini, junger Bürger aus Maatkas (Tizi-Ouzou), wurde am 8. Oktober 2002 bei einer Demonstration gegen die Kommunalwahlen von einem Händler des Dorfes erschossen.
Zahir Bouremoua genannt « Djamel », 21 Jahre, wurde am 9. Oktober 2002 (am Vorabend der Kommunalwahlen) in Toudja (Béjaïa) durch den Schuss eines Polizisten tödlich verletzt.
Saddek Aït-Mansour genannt « Nabil », 22 Jahre, schwerverletzt am Kopf durch Schüsse von Sicherheitsdiensten am 4. November 2002 in Seddouk (Béjaïa), erlag nach einem dreimonatigen Koma seinen Verletzungen am 14. Februar 2003 im Krankenhaus von Tizi-Ouzou.
Abou Mdouad, 19 Jahre, wurde am 1. Dezember 2002 in Azzaba (Skikda) bei einer Protestdemonstration von einem Polizisten erschossen.
Einige Fälle von Bürgern, die bei Revolten und anderen Protesten schwer verletzt wurden:
Bouzid Oudène, schwerverletzt (Schädeltrauma) bei einer Revolte in Chemini (Béjaïa) am 21. März 2002, wurde in die Notaufnahme des Krankenhauses von Béjaïa eingeliefert.
Camélia Kadi, 17 Jahre, im Gesicht schwerverletzt von einer Tränengasgranate in der Cité von Genêts in Tizi-Ouzou am 26. März 2002.
Rabah Hamdi, 18 Jahre, am Kopf schwerverletzt von einer Tränengasgranate am 28. März 2002 bei einer Revolte in Tizi-Ouzou, wurde ins Krankenhaus von Tizi-Ouzou eingeliefert.
Nassim Tagmount, am Auge schwerverletzt bei Zusammenstößen mit Sicherheitsdiensten in Irdjen (Tizi-Ouzou) am 27. Mai 2002, wurde ins Krankenhaus Mustapha (Algier) eingeliefert.
Mohand Boukir, 25 Jahre, verletzt durch Schüsse am 28. Mai 2002 in Akbou (Béjaïa).
Fethi Titouh, 16 Jahre, verletzt durch Schüsse in Tazmalt am 30. Mai 2002.
Nassim Aïdli, 18 Jahre, wohnhaft in El Kseur, verletzt durch Schüsse am 30. Mai 2002.
Noureddine Khimouzi, 15 Jahre, Schüler, wohnhaft in Akbou, verletzt durch Schüsse am 31. Mai 2002.

Die Opfer erhalten oftmals außer Nothilfe keine weitere Behandlung. Deshalb richten ihre Familien oder sie selbst über die Presse verzweifelte Appelle an ihre Mitbürger um finanzielle Hilfe für die notwendige medizinische Versorgung.

Zwei Beispiele für die Verzweiflung der Opfer und/oder ihrer Familien seien angeführt:
Saddek Ait-Mansour, aus Seddouk (Béjaïa), am Kopf schwerverletzt im November 2002, wurde im Koma liegend in die Intensivstation von Tizi-Ouzou eingeliefert. Seine Familie und Freunde veröffentlichten in der Presse (Liberté, 5. Dezember 2002) einen vergeblichen Spendenaufruf für einen Nottransport in ein europäisches Krankenhaus. Dieser junge Bürger erlag am 14. Februar 2003 seinen schweren Gehirnverletzungen.

Mourad Mehziouz, aus Ait Farah (Tizi-Ouzou), veröffentlichte ebenfalls einen Spendenaufruf (Le Matin, 2. Januar 2993): « Ich bin ein Opfer der Ereignisse des schwarzen Frühlings und leide an Harn- und Erektionsstörungen mit Sperma im Urin infolge eines Angriffs von Gendarmen am 25. und 27. April 2001. Mein Gesundheitszustand erfordert kostenintensive Behandlungen. Ich bitte daher dringend um Spenden. »

7. Der Kampf der Familien der Verschwundenen

Eine klaffende Wunde dieses Krieges bleibt das tragische Verschwinden von über 4000 bis zu 10 000 Bürgern, die von den verschiedenen Sicherheitsdiensten im Laufe dieser Tragödie und insbesondere in den Jahren von 1993 bis 1998 entführt wurden. Nachdem das Regime zunächst die Existenz dieses Problems trotz der von vielen NGO’s und Menschenrechtsaktivisten vorgelegten unbestreitbaren Beweise geleugnet hatte, wurde unter der Präsidentschaft von Bouteflika dieses Problems endlich zugegeben. Präsident Bouteflika selbst nannte die Zahl von 10 000 Verschwundenen. Der Innenminister sprach seinerseits von 4000 Fällen.Eine von Menschenrechtsaktivisten durchgeführte Untersuchung listete im Januar 2002 3700 Fälle auf (40).

Die Familien der Verschwundenen, die sich in mehreren Vereinigungen (Collectif des familles de disparus, SOS-Disparus, ANFD, Associations des familles de disparus de Constantine et d’Oran) organisiert haben, führen einen bewundernswerten und mutigen Kampf, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen und dieses schmerzende Problem vor nationale und internationale Instanzen zu tragen. Sie organisieren in mehreren Städten Algeriens, darunter die Hauptstadt, wöchentliche Versammlungen, um ihre Mobilisierung und Entschlossenheit in ihrem Streben nach Wahrheit zu zeigen. Diese Versammlungen wurden immer wieder zum Opfer brutaler Repression durch die Sicherheitsdienste (Siehe das Kapitel Verletzungen individueller und kollektiver Rechte).

Die Pufferorganisation zwischen dem algerischen Regime und den Familien der Opfer, das staatliche ONDH (Observatoire national des droits de l’homme), wurde nach der Amtsübernahme von Präsident Bouteflika 1999 durch die CNCPPDH (Commission nationale consultative de protection et de promotion des droits de l’Homme) ersetzt. Ihr Präsident Farouk Ksentini schien sich für die Aufdeckung der Wahrheit über diese Tragödie einsetzen zu wollen. Aber bis heute bestreiten die staatlichen Behörden ihre Verantwortung für die Entführung und das Verschwinden von tausenden Menschen. Die offizielle Version besagt, dass diese Personen, wenn sie nicht von bewaffneten Gruppen entführt wurden, freiwillig in die Maquis gegangen oder ins Ausland geflohen sind. Das algerische Regime hat mehrere Vorgehensweisen entwickelt, um die Akte der Verschwundenen, die aufgrund der hohen Zahlen internationales Aufsehen erregt, endgültig zu schließen.

– Der erste Versuch dieser Art erfolgte Anfang 2000. Unter dem Vorwand, Verwaltungs- und Erbfragen zu regeln, erklärten die Gerichte (kraft Artikel 109 und 114 des Familiengesetzes) Personen als « verschwunden ». Vier Jahre nach diesem Urteil werden die Verschwundenen als tot erklärt. Das käme einem Schließen der Akte gleich, ohne dass die Familie die Umstände der Entführung, das Schicksal der « Verschwundenen » und die Verantwortlichen dieser Verbrechen erfährt. Dadurch wird die Straflosigkeit der Verantwortlichen für diese Verbrechen gegen die Menschheit sichergestellt. Die meisten Familien protestierten entrüstet gegen dieses juristische Manöver bei mehreren Versammlungen vor Gerichten.

– Die Familienangehörigen, die Vater, Bruder oder Ehemann verloren haben, sind oftmals ohne Einkommen und leben in größter Armut. Der Staat versucht, ihr Schweigen zu « kaufen », indem er ihnen eine Entschädigungszahlung gewährt und zugleich die Anerkennung als Opfer der nationalen Tragödie verweigert, obwohl ihre Angehörigen von staatlichen Sicherheitsdiensten entführt wurden. Den Kindern der « Verschwundenen » wird sogar die bescheidene Schulunterstützung von 2000 Dinar, die bedürftige Kinder und Kinder der Opfer des « Terrorismus » zu Beginn des Schuljahres erhalten, entzogen. Angesichts der Proteste vieler Familien, bot ihnen der Staat den Status als « Opfer des Terrorismus » unter der Bedingung an, keine Forderungen nach einer Untersuchung der Umstände und des Schicksals der Verschwundenen mehr zu stellen. Die Familien und ihre Vertreter lehnten dieses Angebot ab und verurteilten den Versuch des Staates, das Elend der Familien auszunutzen, um sie zu spalten und für sich zu instrumentalisieren.

– Das letzte Manöver dieser Art fand Ende 2002 statt und stieß auf die Entrüstung der Familien. Der Präsident der CNCPPDH machte den Vorschlag, die Familien durch die Zahlung von 1 Million Dinar und eine Todesbescheinigung zu entschädigen (41). Dies käme einem Schließen der Akte gleich « durch einen Austausch von Geld und einem Stück Papier gegen Menschenleben », wie es in einem Kommuniqué der Familien der Verschwundenen hieß. Durch dieses ungeschickte Manöver erkannte der Staat implizit seine Verantwortung für die Ermordung dieser « verschwundenen » Bürger an. Farouk Ksentini sagte darüber hinaus in einem Interview (Le Monde, 8. Januar 2003): « Wir müssen verstehen, dass dieses Verschwinden den Umständen zuzuschreiben ist, die in Algerien mehrere Jahre lang herrschten. Der Staat war praktisch aus allen Regionen des Landes verschwunden, niemand hatte mehr die Kontrolle, es war die Apokalypse. Man fand abgeschnittene Köpfe am Straßenrand. Das Leben eines Menschen war nichts wert, auf beiden Seiten. Unter diesen Umständen konnten alle Arten von Verbrechen gedeihen: Banditenunwesen, Abrechnungen, extralegale Hinrichtungen usw. »

In dem am 5. September 2002 an Farouk Ksentini übergegebenen Memorandum und bei einer Versammlung am 17. November 2002 am Sitz des Staatspräsidenten erklärten die Familien der Verschwundenen: « Die Entschädigung ist niemals dazu geeignet, die Suche nach der Wahrheit über das Schicksal unserer Kinder zu ersetzen oder zu beenden. Es handelt sich um eine nationale Hilfe und Unterstützung für die Familien der Verschwundenen. Die Kriterien und Modalitäten der Entschädigungszahlungen müssen in aller Offenheit mit den Familien der Opfer diskutiert werden. »

– Um die Verantwortung mit dem Staat verbundener Organe auf ein Minimum zu reduzieren, wurde die Nationalgendarmerie, die in die Entführungen nicht weniger verwickelt ist als die anderen Sicherheitsdienste, damit beauftragt, den Anzeigen der Familien nachzugehen und Untersuchungen durchzuführen. Sie behauptet für 2300 der insgesamt 7000 erstatteten Anzeigen Erklärungen geben zu können: in keinen dieser Fälle seien die Sicherheitsdienste verstrickt (42). Angesichts der Natur der Untersuchungen und dem geringen Vertrauen, das die Familien und die Öffentlichkeit in sie setzen, entwickelte das Regime andere Praktiken: « Reumütige », die einen Verschwundenen im Maquis gesehen haben wollen; Exhumierungen von Leichen aus Massengräbern oder Brunnen, um die Toten zu identifizieren, aber nicht um echte Untersuchungen durchzuführen mit dem Ziel, die Verantwortlichen für die Entführungen ausfindig zu machen, sondern um die Akte endgültig zu schließen (die Familien werden erst Monate nach der Exhumierung informiert und die Leiche wird ihnen nach erfolgter Identifizierung nicht automatisch übergeben). Es ist zwar vorgesehen, nach der Lokalisierung von Massengräbern DNS-Tests durchzuführen, aber es war niemals die Rede davon, die Wahrheit festzustellen und Gerechtigkeit walten zu lassen.

– Die Maßnahmen und Reden staatlicher Autoritäten in den letzten Jahren zeigen deutlich, dass es nicht nur keinen Willen gibt, dieses Problem auf rechtlichem Wege zu lösen, sondern auch dass die nationale und internationale Öffentlichkeit darauf vorbereitet werden soll, eine Lösung zu akzeptieren, die jeden Rückgriff auf die Justiz ausschließt. Immer öfter ist auch die Rede von einer Generalamnestie, wodurch die Straflosigkeit für die Verantwortlichen dieser Verbrechen kodifiziert würde. Der Präsident der CNCPPDH räumte ein: « In erster Linie würden von dieser Amnestie Personen profitieren, die Institutionen angehören, die beschuldigt werden, für das Verschwinden verantwortlich zu sein. Eine solche Maßnahme hätte die Einstellung aller Untersuchungen zur Folge. Auch wenn einige Kriminelle von einer Amnestie profitieren würden, ist diese doch angebracht und für Algerien wünschenswert, um ein Kapitel zu schließen und voranschreiten zu können. »

Aber die Familien der Verschwundenen, die Opfer der Folterungen und willkürlichen Verhaftungen, die Familien der Opfer von willkürlichen Hinrichtungen und Massakern begnügen sich nicht damit « ein Kapitel zu schließen und voranzuschreiten », ohne dass Wahrheit und Gerechtigkeit walten.

8. Die Lage der Menschenrechtsaktivisten

Drohungen und Einschüchterungen gegenüber Menschenrechtsverteidigern sind in Algerien an der Tagesordnung. Die Menschenrechte galten den Herrschenden nie als unverletzlich. Schon 1985, daran sei erinnert, wurden die Gründungsmitglieder der ersten algerischen Menschenrechtsliga (LADDH) verhaftet und wegen « Gefährdung der Sicherheit des Staates » zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Die Liga wurde erst nach der blutigen Repression im Oktober 1988 anerkannt.

Das Jahr 2002 war geprägt von der Repression gegen viele Menschenrechtsaktivisten: Einschüchterungen, Belästigungen der Familien, willkürliche Verhaftungen, Justizkonstrukte, ungerechte Prozesse usw. Einige Aktivisten wurden bei Schnellverfahren auf der Grundlage von Konstrukten verurteilt, andere wurden ins Exil getrieben und wieder andere wurden mit dem Tod bedroht und gingen in den Untergrund.

Diese Einschüchterungsversuche zeigen mit aller Klarheit, dass das Regime trotz der beschwichtigenden Reden über Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit die von ihm unterzeichneten internationalen Pakte und Verträge, insbesondere den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und die Erklärung der Vereinten Nationen über die Verteidiger der Menschenrechte, missachtet.

Folgende Fälle seien beispielhaft angeführt:
Larbi Tahar, Mitglied der LADDH, wohnhaft in Labiod Sidi Cheikh (El Bayadh), wurde im Oktober 2001 im Zuge der Revolten gegen die Verschlechterung der sozioökonomischen Lebensbedingungen in der Region verhaftet und im Berufungsverfahren zu sieben Monaten Gefängnis und 5000 Dinar Geldstrafe wegen « Aufruf zur illegalen Zusammenrottung, Widerstand gegen Ordnungskräfte und Zerstörung von Privateigentum » verurteilt.

Mohamed Hadj Smain, Mitglied der LADDH, wohnhaft in Relizane, informierte die internationale Öffentlichkeit und die NGO’s über die Existenz von Massengräbern in Relizane, in denen von der lokalen Miliz hingerichtete Bürger verscharrt worden waren. Er wurde am 24. Februar 2002 im Berufungsverfahren zu einem Jahr Gefängnis und 210 000 Dinar Geldstrafe verurteilt. Er wurde am 19. Februar 2002 erneut von Gendarmen festgenommen und der Aufstachelung der Einwohner von Bendaoud (in der Nähe von Relizane) zur Revolte beschuldigt, nachdem ein « Abgeordneter » der RND mit seiner Feuerwaffe einen Bürger angegriffen hatte.
Abderrahmane Khelil, Mitglied der LADDH und von SOS-Disparus, wurde in 2002 immer wieder belästigt, bedroht und verhaftet. Am 14. März 2002 wurde er bei einer Versammlung der Familien der Verschwundenen, die mit Gewalt aufgelöst wurde, zum ersten Mal verhaftet. Am 18. März 2002 wurde er bei einer Versammlung der Familien der Verschwundenen vor dem Sitz der UNO in Algier zum zweiten Mal verhaftet. Am 19. Mai 2002 wurde er in der Nähe der Universität von Bouzareah verhaftet. Er wurde zu 6 Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Er musste ins Exil gehen.

Rachid Mesli, Rechtsanwalt, Mitglied der LADDH, wurde nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis von Tizi-Ouzou im Juli 1999, nachdem er eine dreijährige Gefängnisstrafe wegen « terroristischer Aktivitäten » abgesessen hatte, von der politischen Polizei verfolgt. Er wurde von Amnesty International als politischer Gefangener unterstützt. Aufgrund dieser Verfolgung musste er im August 2000 mit seiner Familie ins Schweizer Exil gehen, wo er seine Aktivitäten als Menschenrechtsaktivist fortsetzte. Die Sicherheitsdienste erwirkten 2002 einen internationalen Haftbefehl gegen ihn wegen Mitgliedschaft in einer « im Ausland agierenden terroristischen bewaffneten Gruppe » (43). Viele Bürger aus seinem Wohnort Ain Taya und dessen Umgebung, die ihn über die Menschenrestslage informierten, wurden verhaftet und gefoltert.

Mahmoud Khelili, Rechtsanwalt, unabhängiger Menschenrechtsaktivist, wurde in den Monaten Oktober und November zum Opfer einer Einschüchterungskampagne, nachdem er in Oran einen Beamten vertreten hatte, der einen General (Chef einer Militärregion) beschuldigte, in den Drogenhandel verwickelt zu sein. Er und sein Sohn wurden mehrfach telefonisch mit dem Tod bedroht. Sein Büro wurde einen Nachmittag lang von verdächtigen Personen umstellt, die mit als Privatfahrzeugen getarnten Polizeifahrzeugen vorfuhren. In Europa wurde ein Unterstützungskomitee für RA Khelili gegründet. Das Observatorium zum Schutz der Verteidiger der Menschenrechte verurteilte diese Einschüchterungskampagne.

Salah-Eddine Sidhoum, Chirurg, unabhängiger Menschenrechtsaktivist, veröffentlichte am 11. Januar 2002 zum 10. Jahrestag des Staatsstreiches in Zusammenarbeit mit Algeria-Watch und anderen Aktivisten einen Bericht über « Verschwundene » (3700 Fälle) und extralegale Hinrichtungen (1100 Fälle). Seit dieser Zeit wurde seine Familie von nächtlichen telefonischen Drohungen belästigt. Am 15. Dezember wurden zwei Zivilisten an seiner Wohnung vorstellig und übergaben eine Einberufung des PCO von El Madania, in dem bekanntermaßen gefoltert wird, obwohl ihnen bekannt war, dass Herr Sidhoum im Dezember 1994 in den Untergrund gegangen war, nachdem er einen Anschlag überlebt hatte. Sie forderten seine Ehefrau auf, an seiner Stelle zu kommen – eine der Methoden, mit denen er zum Schweigen gebracht werden soll (44).

Fazit

Die Fakten zerstören das idyllische Bild, das das Regime der internationalen Öffentlichkeit vermitteln will, das idyllische Bild eines durch elf Jahre kriegerische Politik « befriedeten » Algerien, durch sogenannte Sicherheitspolitik, die offensichtlich längst an ihre Grenzen gestoßen ist. Diese selbstmörderische Politik hat nicht nur nichts zur Lösung der vielschichtigen tiefen Krise beigetragen, sondern diese Krise in sozialer, politischer und ökonomischer Hinsicht verschärft.
In Algerien herrscht Unrecht und Rechtlosigkeit. Der Graben wird immer tiefer zwischen der leidenden Bevölkerung und dem Regime, das von der nationalen Realität abgeschnitten ist und seine entfesselte Flucht nach vorn fortsetzt. Das Unrechts- und Willkürregime und seine verkommenen Attrappeninstitutionen nähren die Unzufriedenheit der Bevölkerung und provozieren dauerhaft die gewaltsame Opposition einer Jugend ohne Gegenwart und Zukunft.
Wie in den vergangenen Jahren wurden auch 2002 Menschenrechtsverletzungen begangen, wie die zahlreichen Fälle in diesem Bericht belegen. Und die Verantwortlichen genießen weiterhin absolute Straflosigkeit.
Der Justizapparat dient weiterhin der politischen Macht als Instrument, um jede Opposition von Bürgern zu unterdrücken, die von der Krise mit aller Härte getroffen werden, während er stumm und unfähig ist, Untersuchungen durchzuführen über die vielen Fälle bis heute ungeklärter Morde, die tausenden « Verschwundenen », die Massaker an schutzlosen Bürgern, die Morde in der Kabylei und die von Bürgern erhobenen Vorwürfe bezüglich der Existenz von Massengräbern an mehreren Orten (Sidi Moussa, Relizane usw.).
Die wirtschaftliche und soziale Lage verschlechtert sich weiter und die Verarmung trifft weite Teile der Bevölkerung. Der Kriegszustand und die Folgen der von den internationalen Finanzinstitutionen auferlegten Politik der Strukturanpassung haben das Land in den wirtschaftlichen Niedergang gestürzt. Dieser ökonomische und soziale Verfall führte zu einer Verschärfung der sozialen Übel (Bettelei, Prostitution, Drogen, Banditenunwesen usw.), zum Wiederauftauchen bzw. zur Ausdehnung der « Krankheiten der Unterentwicklung » (Tuberkulose, Typhus, Cholera, Unterernährung usw.) und zum Aufflackern des Geistes der Revolte bei den Bürgern, wie die eindrucksvolle Zahl von Revolten in diesem Jahr zeigt.
Es ist sicher, dass es keine Verbesserung der Lage auf allen Ebenen geben kann ohne Rückkehr zum Frieden und echte politische Stabilität. Doch das bestehende Regime lehnt jede politische Lösung der Krise ab und stützt sich auf Notbehelfe, die längst ihre Grenzen gezeigt haben (Sicherheitspolitik, Politik der « zivilen Eintracht », chaotische Behandlung der Krise in der Kabylei, Manipulationen usw.).
Es ist klar, dass der wiederhergestellte Frieden und die gesicherte politische Stabilität den von aller Bevormundung befreiten Bürgern und Bürgerinnen ermöglichen wird, freie Selbstbestimmung zu üben und ihren Weg zu wählen, um Algerien für alle Bürger und Bürgerinnen auf der Grundlage ihrer zivilisatorischen Werte und in Offenheit für universelle Werte wiederaufzubauen. Diese Rettung der Nation erscheint den Machthabern allerdings leider als selbstmörderische Tat und sicheres Ende ihrer Privilegien.
Ohne politische Lösung gibt es keinen Frieden, keine Verbesserung der Situation der Menschenrechte und keinen wirtschaftlichen Aufschwung in diesem Klima von Krieg, Unrecht und allgemeiner Korruption trotz der substanziellen Aufstockung der nationalen Finanzreserven, die durch die Ölrente ermöglicht wurde.
Nur ein Rechtsstaat und seine gewählten demokratischen Institutionen können die Achtung der Menschenrechte sicherstellen und die Bürger für den Wiederaufbau des Landes mobilisieren.

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Fußnoten
(22) Zitiert in: Abdennour Ali Yahia, Algérie: Raisons et déraison d’une Guerre, Editions L’Harmattan, 1996, Seite 69.
(23) Prof. Mohand Issad, « La justice doit être un pouvoir », Le Matin, 8.-9. Dezember 2000.
(24) Le Quotidien d’Oran, 28.02.2002.
(25) Siehe die Pressekommuniqués des Observatoriums zum Schutz der Verteidiger der Menschenrechte vom 5. Jan. 2002, vom Kollektiv der Familien der Verschwundenen vom 5. Jan. 2002, der LADDH vom 6. Jan. 2002 und des ADTH (Algérie – Droits de l’Homme pour tous) vom 6. Jan. 2002.
(26) Äußerung eines Korrespondenten einer in Algier erscheinenden Zeitung in Annaba, zit. in: Reporters sans frontières, Algérie: La liberté de la presse victime de l’Etat de non-droit, November 2002.
(27) Arezki Ait Larbi, Révélations d’un ancien détenu d’opinion, Hebdomadaire L’événement Nr. 162, 2.-8. April 1994.
(28) Le Matin, 7. Mai 2002. Es gibt je nach Quelle unterschiedliche Angaben.
(29) El Watan, 9. Mai 2002.
(30) Journée d’étude sur la médecine pénitentiaire, organisée par le ministère de la Justice, 22.10.2002, Algier.
(31) < http://www.algeria-watch.org/mrv/mrvrap/groupe_travail_0302.htm >
(32) Diese Zahl basiert auf der Zählung der Presse und den Kommuniqués der Sicherheitsdienste.
(33) El Khabar, 17.01.2002.
(34) Le Matin, 05.02.2002.
(35) La Tribune, 04.03.2002.
(36) Le Matin, 02.01.2003.
(37) Liberté, 26.05.2002.
(38) L’Expression, 05.09.2002.
(39) Für einen Überblick über die 2002 begangenen Massaker siehe: Chronologie des massacres par Salah-Eddine Sidhoum, Algeria-Watch, septembre 2002, actualisé mars 2003, < http://www.algeria-watch.org/mrv/2002/bilan_massacres.htm >.
(40) Salah-Eddine Sidhoum und Algeria-Watch, < http://www.algeria-watch.org/mrv/2002/liste_disparitions/disparitions_liste_a.htm >
(41) Interview mit Farouk Ksentini, Echourouk El Yaoumi, 3.11.2002. Er dementierte diese Äußerung einige Tage später auf Kanal 1 des nationalen Radios.
(42) Le Monde, 8. Januar 2003.
(43) Urgent Appeal, Amnesty International, London, 14.11.2002: Cas d’appel sur la torture. Brahim Ladada et Abdelkrim Khider, Index AI MDE 28/202/02.
(44) Siehe Urgent Appeal, Algeria-Watch, 16.12.2002, < http://www.algeria-watch.org/mrv/mrvrepr/sidhoum.htm > , Offener Brief von Justitia Universalis an den Staatspräsidenten vom 17.12.2002 < http://www.algeria-watch.org/pdf/pdf_fr/JU_sidhoum.pdf > , Urgent Appeal des Observatorium zum Schutz der Verteidiger der Menschenrechte vom 18.12.2002 < http://www.algeria-watch.org/mrv/mrvrepr/sidhoum_observatoire.htm > und der Brief von Human Rights Watch an den Justizminister vom 20.12.2002 < http://www.algeria-watch.org/mrv/mrvrap/hrw_sidhoum.htm >.