Die Schraube der Repression wird weiter angezogen

Die Schraube der Repression wird weiter angezogen

Algeria-Watch, 23. Oktober 2006

Eine mit Gewalt durchgesetzte « Versöhnung »

Das Gesetz vom 28. Februar 2006zur Anwendung der « Charta für den nationalen Frieden und die Versöhnung » (1) soll das Ende der « nationale Tragödie » einläuten. Diesem Gesetzestext ging im August 2005 eine Charta für Frieden und Versöhnung (2) voraus, deren Zustimmung durch ein Referendum mit gefälschten Ergebnissen eingeholt wurde. Die Ereignisse, die zu der Tragödie geführt haben, werden weder in der Charta noch in dem darauf folgenden Gesetz näher analysiert. Es wird suggeriert, dass Algerien die Qualen der « großen Fitna » (Spaltung, Aufruhr, Bürgerkrieg), der « kriminellen Aggression » erlebte und dank der ruhmreichen Armee, der Sicherheitskräfte, der Milizen und des Volkes den « Terrorismus » besiegt habe. (3)

In den algerischen und internationalen Medien wird vor allem hervorgehoben, dass dieses Gesetz eine Amnestie für « Terroristen » darstellt. In Wirklichkeit sieht der Text in Bezug auf diese Personengruppe keine anderen Bestimmungen vor, als das Gesetz zur « zivilen Eintracht » von 1999: « Reumütige » Islamisten konnten damals wie heute, wenn sie keine Massaker, Vergewaltigungen oder Bombenanschläge verübt hatten, Straferlass erhalten. Sie mussten sich innerhalb von sechs Monaten – also bis Ende August 2006 – den Behörden stellen. Allerdings dürfen sie dann keinen politischen Tätigkeiten nachgehen. Die Anwendung des Gesetzes hat zu Recht viel Protest hervorgerufen, weil viele Kriminelle jetzt wieder auf freiem Fuß sind. Anführer oder Mitglieder von bewaffneten Gruppen, von denen nicht immer bekannt ist, ob sie nicht vom Geheimdienst gesteuert wurden, wurden freigelassen oder erst gar nicht vor Gericht gestellt, obwohl sie schwere Straftaten begangen haben. Die politischen Aktivisten, die keine « Reue » zeigen und nicht mit dem Regime kollaborieren wollen, werden hingegen weiterhin als Terroristen bezeichnet und von der « Versöhnung » ausgeschlossen.

Wirklich neu an dem Gesetz ist die vollständige Amnestierung aller Sicherheitskräfte. Der Artikel 45 lautet: « Keine Strafverfolgung kann eingeleitet werden gegen Einzelne oder Gruppen, die irgendeinem Bestandteil der Verteidigungs- und Sicherheitskräfte der Republik angehören, für Taten, die in der Absicht unternommen wurden, Personen und Güter, die Nation oder Institutionen der Demokratischen Volksrepublik Algerien zu schützen. Die zuständigen Justizbehörden müssen jede Anzeige oder Beschwerde abweisen. » Dieser entscheidende Artikel wird von kaum einem Medium hervorgehoben, obwohl er gegen die algerische Verfassung und internationale Konventionen, die der algerische Staat unterzeichnet hat, verstößt – und jedem Versuch, die Wahrheit über die Verbrechen der letzten 15 Jahre zu ermitteln, einen Riegel vorschiebt.

Dieser Tatbestand hindert allerdings die europäischen Regierung nicht daran, die sogenannte Politik der Versöhnung als einen großen Schritt für den Frieden in Algerien zu bezeichnen. Die deutschen Behörden gehen sogar so weit, im Namen dieses Gesetzes algerische Asylberechtigte erneut zu befragen, um ihnen ihr Asylrecht abzusprechen und nahe zu legen, nach Algerien zurück zu kehren. Eine Rückkehr bedeutet allerdings unter den gegebenen Umständen nicht nur, dass die ehemaligen politischen Aktivisten der FIS für ihr Engagement Reue zeigen müssten, sondern dass sie sich verpflichten, weder den Staat zu kritisieren, noch eine politische Aktivität wieder aufzunehmen.

Maulkorb für Menschenrechtler

Die « Versöhnungspolitik » geht also so weit, jede Darstellung der Ereignisse seit dem Putsch von 1992, die nicht der offiziellen entspricht, gesetzlich zu verfolgen. Artikel 46 sieht die Bestrafung derjenigen vor, die schriftlich oder mündlich den « Staat schwächen », « der Ehrenhaftigkeit seiner Bediensteten, die ihm würdevoll gedient haben, Schaden zufügen » oder « das Bild Algeriens international trüben ». Eine Gefängnisstrafe zwischen 3 und 5 Jahren und eine Geldstrafe zwischen 250 000 und 500 000 Dinar kann bei diesen Verstößen verhängt werden. Die Strafe kann im Wiederholungsfall verdoppelt werden.

Bis heute wurde dieser Artikel nicht angewandt, allerdings als Drohung geschwungen. So z.B. als der Rechtsanwalt und Menschenrechtler Amin Sidhoum während der vom 11. bis 25. Mai 2006 in Banjul (Gambia) tagenden afrikanischen Kommission für Menschen- und Völkerrechte einen Vortrag über die Konsequenzen des « Amnestiegesetzes » halten wollte. Ein Vertreter des algerischen Staates erinnerte ihn daran, dass er zu drei bis fünf Jahren Haft verurteilt werden könne.

Amin Sidhoum und seine Kollegin Hassiba Boumerdessi werden seit einigen Monaten mit gerichtlichen Nachstellungen belästigt. Ihr Engagement an der Seite der Familien von Verschwundenen und ihre Verteidigung von Personen, die verdächtigt wurden, terroristische Taten begangen zu haben, sind den algerischen Behörden ein Dorn im Auge. Beide Anwälte setzten sich für Mandanten ein, die nach Jahren der Untersuchungshaft, im Rahmen des Gesetzes für « Frieden und Versöhnung » hätten freigelassen werden müssen. Als ihre Bemühungen fruchtlos ausgingen, informierten sie die Medien. Ende August 2006 erschien ein Artikel zu dem Thema in der arabischsprachigen Zeitung El Khabar. Daraufhin wurden diese Männer auf freien Fuß gesetzt, aber der Druck auf beide Anwälte nahm zu. Sie wurden beschuldigt, der Presse falsche Informationen über die Verfahren ihrer Mandanten mitgeteilt und verbotene Gegenstände in das Gefängnis eingeführt zu haben. (4) Diese konstruierten Vorwürfe haben jedenfalls dazu geführt, dass ein Verfahren gegen Amin Sidhoum angestrengt wurde und er nur vorläufig frei ist.

Der junge Anwalt hatte der Presse gegenüber bekannt gegeben, dass nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hunderte Algerier festgenommen worden waren, weil sie verdächtigt wurden, in Afghanistan gewesen zu sein oder « überlegt » zu haben, in den Kampf in den Irak zu ziehen. Gegenüber der Zeitung El Watan erklärte er, dass die algerischen Militärs einen neuen Trick anwenden, um die Überschreitung der gesetzlichen 12-tägigen Garde-à-Vue-Haft zu rechtfertigen. Mit der Einwilligung des Innenministeriums, das auf der Grundlage des Dekret, das den Ausnahmezustand regelt, die Anweisung unterzeichnet, wird den Verdächtigen Hausarrest auferlegt. Dann werden sie in Kasernen eingesperrt ohne Kontakte nach außen. Das ausgestellte Dokument enthält weder den Ort noch die Dauer der Inhaftierung. Da niemand weiß, wo sich diese Männer befinden, handelt es sich um ein « Verschwindenlassen ».

Keine Wahrheit über die Verschwundenen

Im Zusammenhang mit der ungelösten Frage nach dem Schicksal der bis zu 20 000 Verschwundenen aus den neunziger Jahren hat nun der Gesetzgeber im Rahmen « des Friedens und der Versöhnung » einen Schlussstrich ziehen wollen. Die Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit soll endgültig verhindert werden. Während die vom Präsidenten ernannte Kommission eine Zahl von 6146 Verschwundenen, die von staatlichen Organen entführt wurden, ermittelte, spricht das Gesetz die Sicherheitskräfte von jeglicher Verantwortung in Menschenrechtsverletzungen frei (Artikel 45). Das Problem der Verschwundenen soll im Rahmen der « nationalen Tragödie » behandelt werden, deswegen erhalten die Familien den Status der « Opfer des Terrorismus ». Es werden keine Anzeigen von Familien mehr zugelassen, d.h. Ermittlungen werden eingestellt oder erst gar nicht aufgenommen. Im Gegenzug sollen den Familien Kompensationen zukommen.

Die Vertuschungsoperation geht aber in der Praxis noch weiter. Auf die Familien wird auf unterschiedliche Art Druck ausgeübt, damit sie den Tod ihres vermissten Angehörigen akzeptieren. Sie werden, nachdem sie das Verschwinden bei der Polizei gemeldet haben, von einem Gericht vorgeladen, um die gerichtliche Todesbescheinigung zu empfangen. Doch die Polizei oder Gendarmerie, die die Vermisstenbescheinigung ausstellen muss, behauptet oft, dass die betroffene Person in den Untergrund geflohen sei oder in einer bewaffneten Auseinandersetzung mit Sicherheitskräften getötet worden sei. Den Familien werden Unterlagen vorgelegt, die sie nicht lesen können und in denen behauptet wird, ihr Angehöriger sei Terrorist.

Viele Familien, die nur noch aus Frauen und Kindern bestehen, befinden sich in einer hoffnungslosen Lage, da die verschwundene Person für ihre Versorgung aufkam. Sie akzeptieren die Todesbescheinigung oder sind sogar bereit anzugeben, dass ihr Sohn oder Ehemann ein Terrorist war. Mit diesen Tricks werden die Zahlen der Verschwundenen verringert.

Der Druck auf die Familien beginnt aber noch vorher. Viele von ihnen wollen sich nicht die Todesbescheinigung ausstellen lassen, denn sie wollen, dass die Verantwortlichen für das Verschwindenlassen ermittelt und vor Gericht gestellt werden. Oftmals haben sie die Entführer gesehen und wieder erkannt. Sie organisieren öffentliche Proteste, schreiben Briefe, wenden sich an internationale Organisationen und Institutionen etc. Um diesen Protest zu brechen lässt der Geheimdienst DRS (Département du renseignement et de la sécurité, Nachrichten- und Sicherheitsdienst) die Familien einzeln von seinen Mitarbeitern aufsuchen, um ihnen finanzielle Angebote zu unterbreiten. Ein anderes beliebtes Mittel besteht darin, von ihnen bestochene Opfer der staatlichen Repression mit diesen Besuchen zu beauftragen. So wurde ein Opfer, das gegenüber dem algerischen Observatorium für Menschenrechte über seine Verfolgung berichtete, vor über einem Jahr vom Geheimdienst rekrutiert. Er sollte die Familien von Verschwundenen seines Viertels aufsuchen und sie dazu überreden, die im August 2005 erlassene Charta für den Frieden und die Versöhnung und die angekündigten Entschädigungen zu akzeptieren. Nun wurde ihm nahegelegt, seine auf der Webseite von Algeria-Watch veröffentlichten Zeugnisse zurückzuziehen. Im Gegenzug soll er seinen Pass und Geld erhalten.

Eine weitere Methode, den Widerstand der Familien zu brechen, besteht darin, sie gerichtlich zu verfolgen. Der in Algier ansässige Verein « SOS Disparu(e)s » berichtet über die Schwierigkeiten, denen die Familie Bourefis aus Emir Abdelkader (Wilaya von Jijel) begegnet. Frau Bourefis, deren Ehemann und Sohn seit 1996 verschwunden sind, wurde vom Gericht Taher für den 5. November 2006 vorgeladen. Ihr wird die « Unterbringung einer fremden Person ohne Genehmigung » vorgeworfen, was gesetzlich keinen Strafbestand darstellt. Die Familie Bourefis ist Zielscheibe der Nachstellungen der lokalen Behörden, seitdem sie eine Delegation von SOS-Disparus im Februar 2006 beherbergt hat. Der Verein war in die Region gereist, um Fälle von Verschwindenlassen aufzunehmen und zu dokumentieren. Das Umfeld der Familie Bourefis wurde über die Besucherinnen befragt; die Söhne Bourefis erhielten Drohungen, wurden von der Polizei vorgeladen und verhört. Diese Einschüchterungsversuche verfolgen das Ziel, die aktiven Familien zu spalten und von ihren Bemühungen, die Wahrheit über die Verschwundenen zu erfahren, abzuhalten.

Verschwindenlassen: Kein Phänomen der Neunziger

In den letzten Monaten sind mehrere Fälle von Verschwindenlassen bekannt geworden. Wie verschiedene Organisationen festgestellt haben, wurden diese Personen vom Geheimdienst entführt und in dessen Kasernen gefangen gehalten, wo sie misshandelt und gefoltert wurden. Wenn sie einem Untersuchungsrichter vorgeführt wurden, wurden sie meistens wegen « Mitgliedschaft in einer im In- und Ausland aktiven terroristischen Gruppe » angeklagt. In den letzten Monaten wurden keine Entführungen von anderen Sicherheitsorganen bekannt.

Mohamed Amine Rabah Ajine galt für seine Familie seit dem 19. Juni 2006 als verschwunden. Erst Mitte August erfuhr die Familie, dass er in der Kaserne Antar in Algier inhaftiert war. In diesem vom DRS geführten geheimen Haftzentrum werden viele Personen festgehalten, die als verschwunden gelten.

Im Rahmen einer Verhaftungswelle in der Wilaya von Tiaret während des Frühjahrs 2006 wurden mehrere Männer festgenommen, deren Verbleib den Familien unbekannt blieb. Erst Mitgefangene, die freigelassen wurden, unterrichteten sie von ihrer Anwesenheit in der Kaserne Antar. Unter ihnen befanden sich Zinedine Belaacel, Mohamed Amine Rabah Ajine, Mohamed El Habib Boukhami. (5) Diese Männer wurden erst am 9. Oktober dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Sie berichteten, dass sie geschlagen wurden und dass Offiziere des DRS sie zwangen, ein Verhörprotokoll zu unterzeichnen. Sie befinden sich jetzt in Untersuchungshaft im Gefängnis Serkadji und werden verdächtigt, Mitglieder einer im In- und Ausland aktiven terroristischen Gruppe zu sein.

Madjid Touati wurde am 18. März 2006 von Geheimdienstlern festgenommen und verschwand fast sechs Monate lang. Am 11. September wurde er dem Untersuchungsrichter vorgeführt. (6) Er berichtete, in Antar gefoltert worden zu sein: Mit der « Chiffon »-Methode wurde ihm gewaltsam Schmutzwasser, chemische Substanzen und Urin in großen Mengen eingeführt; er verlor mehrmals das Bewusstsein und wurde brutal geschlagen. Auch er befindet sich in Untersuchungshaft im Gefängnis in Chlef. (7)

Vor wenigen Tagen meldete die LADDH zwei Fälle von Verschwindenlassen. Mehdi Ghezali, der neben der algerischen auch die schwedische Staatsangehörigkeit besitzt, wurde am 15. Oktober um 21 Uhr bei seinem Bruder in Saida von Geheimdienstangehörigen festgenommen und gilt seitdem als verschwunden. Nabil Rezki, der in einer Koran-Schule in Douera unterrichtet, wurde am 17. Oktober in der Polizeistation, als er den Diebstahl seines Handys meldete, festgehalten und von dort aus von Geheimdienstlern entführt. (8)

Ehemalige Gefangene der Kaserne Antar berichten, einige Tage, mehrere Wochen und Monate oder, wie in einem Fall bekannt, zwei Jahre inhaftiert gewesen zu sein, ohne dass ihre Familien oder Anwälte von ihrem Verbleib wussten.

Folter und Massaker bleiben weiterhin auf der Tagesordnung

Das Gesetz zur nationalen Versöhnung behandelt das Problem der Verschwundenen, weil die Familien der Betroffenen seit Jahren auf dieses schwerwiegende Verbrechen aufmerksam machen und damit ein gewisses Aufsehen auch im Ausland erregt haben. Nun will der algerische Gesetzgeber sich dieses unangenehmen Problems entledigen. Zwei weitere Formen der Menschenrechtsverletzungen, die von staatlicher Seite angeordnet wurden, fanden allerdings in dem Gesetz keine Erwähnung. Die Folter, die in den neunziger Jahren bei jeder Verhaftung von allen Repressionsorganen systematisch angewandt wurde, existiert für den Gesetzgeber einfach nicht. Und die Massaker wurden bekanntlich nur von « Terroristen » durchgeführt und niemals als von Sicherheitskräften verübte Verbrechen untersucht. Diese Menschenrechtsverletzungen gehören leider nicht nur der Vergangenheit an, sondern werden im Zeitalter der Versöhnung weiter verübt.

Die Folterungen, die die Männer aus Tiaret erlitten haben, wurden bereits oben erwähnt. Algeria-Watch wurde über das Verschwinden in der Nacht vom 26. zum 27. April 2006 von mehreren Männern aus dem Dorf El-Ouana bei Jijel informiert. Sie wurden von Geheimdienstlern festgenommen und in deren Zentrale in Jijel geführt, wo sie brutal gefoltert wurden. Niemand wusste, wo sie sich befanden. Nach einer Woche wurden sie wieder freigelassen. (9)

Amnesty International stellte fest, dass laut Zeitungsmeldungen in den ersten fünf Monaten des Jahres 2006 etwa 100 des Terrorismus verdächtige Personen festgenommen wurden. Sofern sie vom DRS festgehalten werden, seien Misshandlungen und Folter zu befürchten. (10)

Algeria-Watch meldete am 23. Januar 2006 das Verschwinden von Nouamane Meziche, der am 5. Januar von Hamburg über Frankfurt nach Algier reiste. Er erschien wieder am 19. Februar, als er dem Untersuchungsrichter vorgeführt wurde. Auch er war im geheimen Haftzentrum des DRS Antar inhaftiert und gefoltert worden. Er wurde verdächtigt, terroristischen Aktivitäten im Ausland nachzugehen. Am 4. März wurde er im Rahmen des Gesetzes für Frieden und Versöhnung freigelassen, und das Verfahren wurde eingestellt.

Nicht alle Personen, gegen die ähnliche Anklagepunkte erhoben wurden, wurden im Rahmen des neuen Gesetzes freigelassen. Das vorgebrachte Argument lautete, dass das Gesetz nicht für die Personen gilt, die einer terroristischen Aktivität im Ausland nachgingen. Betroffen war unter anderen M’hamed Benyamina, der auf Anweisung der französischen Behörden am 9. September 2005 in Algerien festgenommen wurde, sechs Monate lang verschwand und gefoltert wurde. Im März 2006 freigelassen, wurde er kurz später wieder inhaftiert und wird seitdem ohne Prozess gefangen gehalten. (11)

Dies zeigt einmal mehr, dass das Gesetz nach Gutdünken der Geheimdienstchefs angewandt wird. Im Rahmen des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus ist Algerien sehr bemüht, seine erfolgreichen Erfahrungen aus den neunziger Jahren zur Schau zu stellen und die schmutzige Arbeit zu übernehmen. Ein Bericht des Europarates schließt aufgrund der Flugbewegungen nach Algerien auf die wahrscheinliche Existenz von geheimen Haftzentren, in die Verdächtige von der CIA per Flugzeug verbracht wurden. (12)

Aber auch im Land wird der Antiterrorkrieg mit allen Mitteln geführt. Mehrere militärische Großoffensiven gegen mutmaßliche bewaffnete Gruppen wurden geführt, während zeitgleich die Behörden ihre Mitglieder dazu aufgerufen haben sollen, sich im Rahmen der Politik der Versöhnung zu ergeben. Die Einzelheiten über solche Militäroperationen werden selten bekannt. Doch im Fall der Erstürmung der Grotte von Seddat bei Jijel haben Augenzeugen über die Praktiken der Armee berichtet. Während die algerischen Medien von einer bis zu 100 Mann starken Gruppe berichteten, die einen unerbittlichen Kampf gegen die Sicherheitskräfte in dieser Gegend geführt haben soll, handelte es sich in Wirklichkeit um ein Versteck, in dem vor allem Frauen, Kinder und Verletzte sich aufhielten. Die algerische Armee setzte mit großer Wahrscheinlichkeit bei ihrem Angriff auf die Grotte chemische Waffen ein. 37 Personen wurden getötet, darunter befanden sich 22 Kinder, 9 Frauen und 6 Männer. Berichten der Mitarbeiter des Zivilschutzes zufolge waren « die Körper starr, versteift in Positionen, die erkennen ließen, dass toxische Gase verwendet wurden. Sie berichten z.B. von einer mit zwei Kindern sitzenden Frau, die ihrem Baby die Flasche gab; alle vier waren in der Bewegung erstarrt, in der der Tod sie überraschte » (13) Die Leichen der Männer wurden zur Identifikation in die Leichenhalle gebracht, während die der Frauen und Kinder im Friedhof von Chekfa unter der Bezeichnung « X » beerdigt wurden. Im Zusammenhang mit dieser Offensive wurde eine der extremsten Propagandakampagnen gestartet, um die Erfolge der algerischen Armee im Kampf gegen den Terrorismus zu preisen.

Die negative Bilanz der « Versöhnung »

Die algerischen Politiker betonen zwar immer wieder die Erfolge der « Versöhnung », aber konkrete Ergebnisse sind bis heute nicht vorzuweisen. Eine Versöhnungspolitik müsste, wenn sie schon nicht das Ergebnis von Verhandlungen zwischen politische Kontrahenten ist, dann doch zumindest ein Angebot des Dialogs mit allen politischen Akteuren beinhalten. Die politische Opposition wird aber zusehends ausgeschaltet, und die wesentlichen Entscheidungen, die das Schicksal des Landes bestimmen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefällt.

Eine Bilanz der Anwendung des Gesetzes, das bis Ende August den sogenannten Terroristen die Gelegenheit bot, sich zu stellen, ist bis heute nicht vorgestellt worden. Die Zahlen sind widersprüchlich. Der Innenminister sprach von 200 Personen, die von März bis Juni sich bei den Behörden gemeldet hätten. (14) Im September nannte er eine Zahl von 500, die entweder getötet worden seien oder sich gestellt hätten. (15) Die Zahl der aus den Gefängnissen freigelassenen Personen, die entweder schon verurteilt waren oder in Untersuchungshaft sich befanden, beläuft sich auf 2200. Doch bis heute werden Personen gefangen gehalten, die freigelassen werden müssten, während manche auf freien Fuß gesetzt wurden, obwohl sie für zahlreiche Verbrechen verantwortlich gemacht wurden. Der 1992-1993 als Chef der GIA bezeichnete Abdelhak Layada, der zum Tode verurteilt worden war, kam im Rahmen dieses Gesetzes frei. Gleichzeitig sitzt aber Malik Medjnoun, dem man den Mord an dem bekannten Sänger Lounes Matoub nicht nachweisen kann, seit sieben Jahren in Untersuchungshaft. (16) Diese unterschiedliche Behandlung der Fälle zeigt, dass die Justiz nicht die im Gesetz vorgegebenen Kriterien befolgt, sondern wahrscheinlich ihre Anweisungen vom DRS erhält.

Die Dekrete, die die Entschädigungen regeln, betreffen drei Kategorien von Personen: Die « Opfer des Terrorismus » wurde in Texten behandelt, die bereits in den neunziger Jahre erlassen wurden. Wie bereits erwähnt, wurden in dem Gesetz « für Frieden und Versöhnung » als einzige « Opfer der staatlichen Repression » die Familien der Verschwundenen aufgeführt, allerdings nicht unter dieser Bezeichnung, sondern als « Opfer der nationalen Tragödie ». Und schließlich sah der Gesetzgeber vor, den Familien von Terroristen eine materielle Unterstützung zukommen zu lassen, wenn sie bestätigen, dass ihre Angehörigen Mitglieder bewaffneter Gruppen waren. Diese Klassifizierung schließt große Teile der Opfer der staatlichen Gewalt aus. Gefolterte oder die Familien von durch die Folter getöteten, extralegal hingerichteten Personen und Opfern von Massakern werden nur dann anerkannt, wenn sie bestätigen, Terroristen oder Opfer von Terroristen zu sein.

Die Entschädigung der Tausende von Männern, die Anfang 1992 in Lagern der Wüste eingesperrt wurden, ist immer wieder Gegenstand der Debatte. Manche unter ihnen wurden bis zu vier Jahre gefangen gehalten, ohne verurteilt worden zu sein. Sie verloren ihre Arbeitsplätze und konnten nach ihrer Freilassung ihre Abwesenheit nicht rechtfertigen, da ihnen keine Behörde bestätigte, dass sie gefangen gehalten wurden. Seit Jahren fordern sie Entschädigungen bzw. die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt. In einer ähnlichen Situation befinden sich diejenigen, die im Juni 1991 an dem Generalstreik der FIS teilgenommen hatten. Sie verloren endgültig ihren Arbeitsplatz.

Der ehemalige Generalstabschef der Armee Mohamed Lamari hatte 2002 angekündigt, dass nur noch 700 Männer in bewaffneten Gruppen operierten. 2005 wurde von 500 aktiven Kämpfern berichtet. Wenn 500 « neutralisiert » wurden, wie Innenminister Zerhouni verkündete, – wie erklären sich dann Algeriens Verantwortliche die Zunahme an Anschlägen und Morden in den letzten Monaten?

 

Fußnoten

1. http://www.algeria-watch.org/fr/article/just/ordonnance_charte.htm

2. http://www.algeria-watch.org/fr/article/pol/amnistie/projet_charte.htm

3. Algeria-Watch, « Versöhnung auf Kosten von Wahrheit und Gerechtigkeit », http://www.algeria-watch.org/de/aw/charta_versoehnung.htm

4. Algeria-Watch, Deux avocats algériens paient pour leur engagement pour les droits humains, 24. September 2006, http://algeria-watch.org/fr/aw/boumerdessi_sidhoum

5. Collectif des familles des disparu(e)s en Algérie,: http://www.algeria-watch.org/fr/mrv/mrvdisp/ajine_disparu.htm

6. Collectif des familles des disparu(e)s en Algérie, La vague de répression se poursuit à Tiaret, 17. August 2006, http://www.algeria-watch.org/fr/mrv/mrvdisp/touati_disparait.htm

7. Siehe Amnesty International, Unrestrained powers: Torture by Algeria’s Military Security, 10. Juli 2006.

8. LADDH, Le spectre des enlèvements pas les services de sécurité revient, 18. Oktober 2006, http://www.algeria-watch.org/fr/mrv/mrvdisp/spectre_enlevements.htm , beide wurden am 19. Oktober freigelassen.

9. Algeria-Watch, La torture au nom de la paix et de la réconciliation, 4. Juli 2006, http://algeria-watch.org/fr/aw/tortures_jijel.htm

10. Amnesty International, Unrestrained powers: Torture by Algeria’s Military Security, Seite 11

11. ODHA, Nouvelles arrestations après libération, http://www.algeria-watch.org/fr/mrv/mrvrepr/arrestations_avril_2006.htm

12. Bericht vom 7. Juni 2006 über die geheime Haft und illegale Transporte von Gefangenen, die Mitgliederstaaten des Europarates betreffen.

13. Algeria-Watch, Le massacre de Seddat: les armes chimiques au service de la « lutte contre le terrorisme », 31. Mai 2006, http://www.algeria-watch.org/fr/aw/massacre_seddat.htm

14. Liberté, 28. Juni 2006.

15. Liberté, 4. September 2006.

16. Siehe Dossier zu seinem Fall: Algeria-Watch, Malik Medjnoun, accusé d’avoir assassiné Lounes Matoub, est détenu arbitrairement depuis 1999, 3. Juni 2006, http://www.algeria-watch.org/fr/aw/medjnoun_7ans.htm