« Versöhnung » auf Kosten von Wahrheit und Gerechtigkeit?

« Versöhnung » auf Kosten von Wahrheit und Gerechtigkeit?

Algeria-Watch, 26. August 2005

Am 14. August hielt Präsident Bouteflika eine viel beachtete Rede. Er kündigte für den 29. September ein Referendum an. Die Algerier und Algerierinnen sollen über die « Charta für den Frieden und die Versöhnung », die am 15. August bekannt wurde, abstimmen. Sogleich wurde die Kampagne zum Referendum eröffnet, und der Präsident reist seither durch das Land, um für sein Projekt zu werben.

Bevor die wichtigsten Punkte vorgestellt und kommentiert werden, muss daran erinnert werden, dass Bouteflika vor zehn Monaten die Absicht äußerte, im Zusammenhang mit der « Versöhnung » eine Generalamnestie zu erlassen. Diese Ankündigung löste große Proteste aus: Während die Medien die bevorstehende Amnestie als ein Zugeständnis an die Mitglieder der bewaffneten Gruppen im Besonderen und an die Islamisten im Allgemeinen kritisierten, äußerten Menschenrechtsorganisationen und die Familien von Verschwundenen, die Befürchtung, dass die Sicherheitskräfte, die für das Verschwindenlassen von tausenden Menschen verantwortlich sind, durch das bevorstehende Gesetz straflos ausgehen werden. Von den Milizen, den Mitgliedern der Todesschwadronen, der Armee und der vom Geheimdienst aufgebauten bewaffneten Gruppen sowie ihrer Befehlshaber, die Massaker und extralegale Tötungen begangen oder befohlen haben, war ohnehin nie die Rede.

So wundert es nicht, dass die Charta den Konflikt, der die Situation in Algerien seit dem Abbruch der Wahlen im Januar 1992 bestimmt, ausschließlich als ein Problem des « islamistischen Terrorismus » analysiert. Daraus ergeben sich folgende Punkte, die hier zusammengefasst werden:

– Dank der ruhmreichen Armee, der Sicherheitskräfte, der Milizen und des Volkes konnte der Terrorismus besiegt werden.

– Der Staat steht an der Seite der Opfer des Terrorismus.

– Dieser Terrorismus hat die Religion instrumentalisiert, weswegen den Verantwortlichen für diese Instrumentalisierung der Religion jegliche politische Betätigung verboten wird.

– Das Drama der Verschwundenen ist eine Konsequenz des Terrorismus. In vielen Fällen waren sie Opfer der « kriminellen Aktivität der blutrünstigen Terroristen ». Der Staat trägt nicht die Verantwortung für das Verschwindenlassen. « Das tadelnswerte Verhalten von Staatsdienern, die, wenn es festgestellt wurde, von der Justiz bestraft wurden, kann nicht als Vorwand dienen, um die Gesamtheit der Sicherheitskräfte in Verruf zu bringen ».

– Alle Opfer werden als Opfer der « algerischen Tragödie » angesehen, und sowohl das Volk wie auch der Staat nehmen sich des Dramas der Familien derjenigen an, die an terroristischen Akten teilgenommen haben.

Aus dieser Analyse ergibt sich der Charta zufolge eine Reihe von konkreten Maßnahmen, die die « nationale Versöhnung » fördern sollen, indem den « Schuldigen » die Hand gereicht wird:

– Erlöschen der Strafverfolgungen für diejenigen, die sich nach dem 13. Januar 2000 den Behörden gestellt haben. Das sogenannte Gesetz der « zivilen Eintracht », das Gleiches anbot, lief zu diesem Zeitpunkt ab.

– Erlöschen der Strafverfolgungen für diejenigen, die ihren bewaffneten Aktivitäten ein Ende setzen und die Waffen den Behörden aushändigen. Das Erlöschen gilt nicht für Personen, die an kollektiven Massakern, Vergewaltigungen oder Bombenanschlägen teilgenommen haben.

– Erlöschen der Strafverfolgungen für diejenigen, die in Algerien oder im Ausland gesucht werden, wenn sie sich freiwillig den zuständigen algerischen Institutionen stellen. Auch hier gilt diese Maßnahme nicht für diejenigen, die Massaker, Vergewaltigungen und Bombenanschläge verübt haben.

– Erlöschen der Strafverfolgungen für diejenigen, die den Terrorismus unterstützt haben und ihre Aktivitäten den Behörden mitteilen.

– Erlöschen der Strafverfolgungen für diejenigen, die in Abwesenheit und nicht wegen Massakern, Vergewaltigungen und Bombenanschlägen verurteilt wurden.

– Begnadigung der inhaftierten Personen, die wegen Unterstützung des Terrorismus verurteilt wurden.

– Begnadigung der inhaftierten Personen, die wegen anderer Gewalttaten als Massaker, Vergewaltigungen und Bombenanschläge verurteilt wurden.

– Strafmilderung oder -Erlass für alle anderen endgültig Verurteilten oder Gesuchten, die nicht von den vorstehenden Maßnahmen erfasst werden.

Ein ursprünglich politischer Konflikt ist auf ein Terrorproblem reduziert, das ein für alle Male für überwunden erklärt wird. Den « irregeleiteten » Islamisten wird mit einer paternalistischen Geste Straflosigkeit gewährt, doch im Gegenzug müssen sie auf jegliche politische Betätigung verzichten. Das hiermit die Verantwortlichen der FIS (islamische Rettungsfront) endgültig diskreditiert und marginalisisert werden sollen, ist offensichtlich. Formaljuristisch unterscheidet sich die Charta nicht viel von dem Gesetz der « zivilen Eintracht » von 1999, allerdings ist ihre Ausführung nicht zeitlich begrenzt worden.

Der Text bleibt in vielen Punkten unklar. Er legt nicht fest, welche Instanz für die Beurteilung der Verbrechen zuständig ist. Was geschieht mit den Islamisten, die keine Verbrechen begangen haben aber als « Terroristen » oder als « Hintermänner » bezeichnet werden? Sie sollen sich den Behörden stellen, die in voller Undurchsichtigkeit über ihr Schicksal bestimmen. Der Text sieht keine Ermittlungen vor, um die Angaben der « Amnestiebewerber » zu überprüfen. Eine Kontrollinstanz, die ihrerseits die Arbeit der Behörden verfolgt, existiert nicht. In der Vergangenheit hatte das Gesetz der « zivilen Eintracht » Bewährungskomitees eingerichtet, an die sich die Bewerber wenden mussten, um von dem Gesetz Gebrauch machen zu können. Bis heute weiß die Öffentlichkeit nicht, wie diese Komitees gearbeitet haben; und weder die Zahl derjenigen, die sich den Behörden stellten, noch ihre Behandlung wurde bekannt. Hunderte, wenn nicht tausende Mitglieder von bewaffneten Gruppen, die sich dem Diktat des Militärs unterwarfen, wurden von Strafverfolgungen verschont, ohne dass festgestellt wurde, welche Taten sie begangen haben. Darunter befanden sich auch jene « Islamisten », die im Auftrag des Geheimdienstes die Guerilla infiltriert hatten. Dieses Verständnis von Versöhnung bedeutet nicht nur, dass die Justiz ausgeschaltet wird, sondern darüber hinaus, dass die Wahrheit über Tausende von Morden und Massakern weiterhin unter Verschluss bleibt.

Sicherlich wird das Referendum für das Regime ein Erfolg werden, da es einmal mehr Frieden verspricht. Wenn nicht massiv gewählt wird, werden die Behörden schon dafür sorgen, dass diese Initiative zum Erfolg wird. Doch solange Folterer und Verbrecher wie z. B. Oberst M’henna Djebbar, der über zehn Jahre lang in Blida eines der wichtigsten Folterzentren geleitet hat, in dem über 4000 Menschen verschwanden, für seine Dienste belohnt und zum General ernannt wird, ist die « Versöhnung » nur eine miese Karikatur. Doch Algerien kann sich in der momentanen internationalen Konjunktur eine solche Farce durchaus erlauben.

Vor dem Hintergrund, dass die Staatskasse über 55 Milliarden Dollar verfügt, die Privatisierung seiner gesamten Wirtschaft eingeleitet, das Monopol der staatlichen Erdölfirma aufgelöst und das Land für amerikanische Militärbasen zur Verfügung gestellt hat, wird gerne über Menschenrechtsverletzungen hinweggesehen. Einzig von Bedeutung ist, dass der Staat die Kontrolle über eine Bevölkerung aufrecht erhält, die, weil sie immer weniger am Erdölsegen teilhat und keine politischen Partizipationsmöglichkeiten findet, ihren Unmut in Revolten zum Ausdruck bringt. Allerdings befinden viele, mitunter die Regierungen, die wirtschaftliche Interessen im Land verfolgen, dass das leidige Kapitel der schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen der neunziger Jahre (als ob in den darauf folgenden Jahren keine Massaker und Folterungen zu verzeichnen gewesen seien) endlich abgeschlossen werden muss. Denn selbst wenn das algerische Regime und die Mehrzahl der Medien im In- und Ausland die unbeschreibliche Gewalt, die seit fast 15 Jahren das Land heimsucht, ausschließlich den Islamisten zuschreiben, erinnert die Frage der Verschwundenen dank der mutigen Proteste der Familien weiterhin an das « blutige Jahrzehnt ».

Der Präsident hat eine Kommission beauftragt, sich der Frage der Verschwundenen zu widmen, ohne ihr allerdings die Befugnis zu erteilen, eigenständige Untersuchungen durchzuführen. Ende März 2005 verfasste die Kommission unter dem Vorsitz von Farouk Ksentini einen Bericht, der nie publik gemacht wurde. Dieser erklärte vielmals gegenüber der Presse, dass die endgültige Zahl der Verschwundenen 6146 beträgt und dass sie Opfer der Übergriffe von einzelnen Sicherheitskräften wurden, die in einer Zeit, in der der Staat selbst « verschwunden » war, unkontrolliert handelten. Der Staat sei verantwortlich für dieses Drama, allerdings könne er nicht für schuldig befunden werden. Daraus ergebe sich, dass die staatlichen Behörden für die Entschädigung der betroffenen Familien, die oftmals in großer Armut leben, sorgen müssten. Es sind aber keine juristischen Schritte vorgesehen, um die Verantwortlichen zu stellen. Die Familien der Verschwundenen protestierten sehr heftig gegen die Ergebnisse der Kommission und forderten weiterhin die Wahrheit über das Schicksal ihrer Angehörigen und die Verurteilung der Verantwortlichen.

Allen Beobachtern war klar, dass der Staat die Frage der Verschwundenen klären muss, bevor ein Amnestiegesetz erlassen werden kann. Die Organisationen der Familien der Verschwundene hatten die internationalen NGO’s, UNO- und EU-Institutionen für dieses Drama sensibilisiert. Und die Forderung nach der Behandlung dieses Verbrechens wurde auch über die Grenzen Algeriens hinaus gestellt. Mit der Kommission von Ksentini, die feststellt, dass Staatsdiener tatsächlich für das Verschwindenlassen verantwortlich waren, ist auf eines der wichtigsten Anliegen der Menschenrechtsorganisationen eingegangen worden – nämlich die Rolle von Staatsbediensteten für dieses Verbrechen einzugestehen.

Wahrscheinlich werden manche internationale Institutionen sich damit abfinden und die Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit aufgeben. Als 1997 die schlimmsten Massaker von nicht-identifizierten bewaffneten Gruppen verübt wurden, entstand eine internationale Kampagne mit der Forderung nach einer unabhängigen Untersuchungskommission. Als Antwort auf diese Kampagne organisierte das algerische Regime mit der Unterstützung der UNO eine Informationsreise von international anerkannten Persönlichkeiten. Sie wurden von Staatsvertretern durch das Land geführt, und ihr abschließender Bericht entsprach den Vorstellungen der algerischen Machthaber. Fazit: Die Forderung nach einer Untersuchungskommission über die Massaker wurde fallen gelassen. Die « Charta für Frieden und Versöhnung » wird in Europa und den USA wahrscheinlich mit großer Genugtuung aufgenommen werden und die Abschiebung algerischer Flüchtlinge vereinfachen.

Die « Charta für den Frieden und die Versöhnung » dient mit der Absegnung durch ein Referendum als ein weiterer Blankoscheck für die Militärführung und ihre Bediensteten. Die rechtliche Amnestierung der staatlichen Verantwortlichen wird möglicherweise per Dekret folgen. Seit der Unabhängigkeit 1962, aber vor allem seit dem Putsch im Januar 1992 bestimmt die Armee und allen voran der Geheimdienst die Geschicke des Landes. In Zeiten der Liberalisierung und Demokratisierung, und seien sie nur eine kosmetische Operation, schickt es sich nicht, von Militärs, die zudem als Verbrecher bekannt sind, regiert zu werden. In den letzten Monaten sind einige der Oberoffiziere des blutigen Jahrzehnts abgesetzt worden. Sogar General Larbi Belkheir, die graue Eminenz des Regimes, soll als Botschafter nach Marokko versetzt werden. Aber selbst wenn General Mohamed Mediene, Chef des algerischen Geheimdienstes, und General Smain Lamari, Chef der Gegenspionage, in Ruhestand gingen oder zu Botschaftern ernannt würden, würde das System sich nicht grundlegend verändern und die politischen Kräfte des Landes weiter unterdrückt werden. Die « Todesmaschine » ist weiterhin am Werk, und weder der Staat noch die Justiz schützen die Algerier und Algerierinnen. Die ökonomischen und geostrategischen Interessen der Großmächte diktieren immer mehr den Bewegungsspielraum der lokalen Machthaber und teilen ihnen insbesondere die Rolle des Polizisten zu, der auf der nationalen Ebene die immer zahlreicher werdenden Revolten einer aufgebrachten Bevölkerung mittels Repression zur Ruhe zwingt und auf der internationalen Ebene die Erdölinteressen der Großkonzerne sichert und die illegale Einwanderung eindämmt.