Aufschlussreiche Spuren im Sand
Verschwunden in der Sahara: Die mühsame Suche nach den in Algerien vermissten Touristen
Aufschlussreiche Spuren im Sand
Die deutschen Behörden gehen davon aus, dass die verschollenen Sahara- Touristen entführt worden sind
Von Annette Ramelsberger, Süddeutsche Zeitung, 12. April 2003
Berlin – Ein toter Hund wurde gefunden. Er trug ein Halsband. Daneben lag der weiß-blaue Aufbau eines Geländewagens im Sand. Sahara-Reisende identifizierten ihn als den gleichen Aufbau, den der verschwundene Deutsche Ulrich Hanel auf seinem Geländewagen montiert hatte. Ein Fernsehteam entdeckte Unterstände in der Wüste, von einem Höhlensystem war die Rede, in einer Schlucht stand ein getarntes Fahrzeug. Die Wüste ist nicht leer. Sie spricht eine eigene Sprache. Und sie hat die inzwischen 31 europäischen Touristen, die in den vergangenen Wochen dort verschwunden sind, auch nicht verschluckt. Mittlerweile gehen die meisten Verantwortlichen nicht mehr davon aus, dass die sieben Gruppen gut ausgerüsteter und erfahrener Motorrad- und Geländewagen-Fahrer vom Weg abgekommen sind oder in einem Wadi von Regenfällen überrascht wurden und ertranken. Denn dann hätte man zumindest die Fahrzeuge gefunden.
Das Schweizer Außenministerium ließ am 8. April wissen, es sehe im Verschwinden der Touristen keinen Zufall, sondern „Systematik“. Soweit gehen die Deutschen nicht. Auch nicht am Freitag, als klar wurde, dass zwei weitere Touristen verschwunden sind – österreichische Bergsteiger. Offiziell hält man in Berlin weiter alles für möglich. Doch längst konzentrieren sich die Überlegungen darauf, dass die Touristen im Süden Algeriens überfallen oder entführt wurden. Und die Vorbereitungen, die die Behörden treffen, deuten darauf hin, dass sie möglicherweise Spuren zu den Entführern haben. Drei Spezialisten des Anti-Terror-Kommandos GSG 9 haben in den vergangenen Tagen eine abhörsichere Direktleitung in der deutschen Botschaft in Algier verlegt – offenbar, um bei eventuellen Verhandlungen mit Entführern mit der Regierung in Berlin sprechen zu können, ohne dabei belauscht zu werden. „Es kann ja Situationen geben, in denen es einen verstärkten Informationsaustausch geben muss, und dafür ist damit Vorsorge getroffen“, sagt der Sprecher des Innenministeriums.
Seit vergangenem Wochenende sind außer den drei GSG-9-Mitarbeitern auch zwei Polizisten des Bundeskriminalamtes in Algier. Am Dienstag flog überraschend Bundesinnenminister Otto Schily nach Algerien. Sicherheitsexperten werten das als Indiz dafür, dass es neue Erkenntnisse geben muss.
Im Keller des Auswärtigen Amtes trat am Freitagnachmittag wieder der Krisenstab zusammen, wie fast jeden Tag. Dort werden die Hinweise abgearbeitet, die von allen Seiten kommen. Im Internet tauschen sich mittlerweile Dutzende von Sahara-Reisenden über ihre Beobachtungen aus. Sie wissen auch von Spuren, die in ein immer enger werdendes Wadi führen. Es sind Spuren von Reifen, die in der Gegend unüblich sind. Oder die Beobachtung von erst kürzlich zurückgekehrten Motorradfahrern, dass in dem Gebiet immer wieder große Dieseltanks stehen, wenn auch leer. Das lässt viele an ein gut ausgebautes Versorgungsnetz denken, das womöglich Entführer genutzt haben könnten. Die deutschen Experten sammeln all diese Hinweise und geben sie an die Algerier weiter – selbst dürfen sie nicht suchen. „Wenn bei uns zehn Algerier in der Lüneburger Heide verschwinden, sagen wir auch nicht: Algerier, sucht mal selbst“, sagt ein Polizist. Auch eine GSG-9-Truppe könnte nicht einfach losstürmen. Immerhin haben die Behörden den Eindruck, dass die Algerier nach anfänglichem Zögern ernsthaft suchen. 1200 Soldaten durchkämmen inzwischen das Gebiet, das fast so groß ist wie die alte Bundesrepublik. Die Mietwagen in der Wüste sind ausgebucht, weil alle zur Suche eingesetzt werden. Helikopter mit Wärmebildkameras überfliegen die Sahara, Suchkarawanen sind losgezogen.
In internen Berichten der deutschen Sicherheitsbehörden hieß es bereits Mitte März, dass die Menschen vor Ort von einer Entführung ausgingen, ausgeführt von Islamisten. Es gebe „Hinweise, dass Zellen der al-Qaida seit einiger Zeit die Sahel-Zone verstärkt als Rückzugsraum beziehungsweise als Basis für ihre Operationen nutzen möchten“, schrieben die Experten schon vor Wochen. Im gleichen Gebiet operiere auch der Schmugglerführer Mukhtar Bel Mukhtar, der Kontakte zu Mitgliedern der al-Qaida pflege und sich den „Salafistischen Gruppen für Predigt und Kampf“ angeschlossen habe. Doch eigentlich könne es nicht in seinem Interesse liegen, die Algerier durch eine Entführung europäischer Touristen auf sich aufmerksam zu machen. Es sei denn, die aus Afghanistan gekommenen al-Qaida-Kämpfer hätten in Algerien mittlerweile bestimmenden Einfluss gewonnen und die Strategie der Gruppe völlig geändert. Das will niemand ausschließen.
Österreich hat inzwischen einen Konvoi organisiert, mit dem zehn Wüstenfahrer aus der Gefahrenzone heraus gebracht werden sollen. Der Konvoi ist am Donnerstag aufgebrochen, er wird am Sonntag in Tunesien erwartet.
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Grausamkeit und Gewalt
Algeriens blutige Geschichte
Von Rudolph Chimelli, Süddeutsche Zeitung 12. April 2003
Paris – Wenn es um ausländische Touristen geht, dann sind 31 Verschwundene in Algerien sehr viel. Bis zum rätselhaften Fall jener Europäer, die in der Sahara vermisst werden, verstand man in dem nordafrikanischen Land unter „Verschwundenen » etwas ganz anders: Gemeint waren damit die 7046 Menschen, die während der neunziger Jahre entführt, verhaftet oder zum Verhör abgeholt und danach nie mehr gesehen wurden. Die Anzeigen ihrer Angehörigen versickerten – nicht im Wüstensand, aber im Gestrüpp von Justiz und Bürokratie. In 4740 Fällen erwiesen sich die Nachforschungen nach offizieller Auskunft als „fruchtlos ». Die französische Zeitung Le Monde zitierte einen Militärsprecher erst jüngst mit der Angabe, in den Bürgerkriegs-Jahren seien 3030 namenlose Leichen in Mas sengräbern beerdigt worden.
Heute können die Familien der „Ver-schwundenen » darüber reden, ohne sofort in den Verdacht zu geraten, sie seien Komplizen islamistischer Terroristen. Sogar von Entschädigung für die Angehörigen ist neuerdings die Rede. Präsident Abdelaziz Bouteflika hat eine Beratende Kommission für Menschenrechte einge-setzt, an deren Spitze ein renommierter Anwalt steht. Die Familien bescheinigen dem Juristen zwar, persönlich integer zu sein. Zugleich kritisieren sie, die Kommission solle weniger die Wahrheit über die Bürgerkriegs-Jahre ans Licht bringen, sondern dafür sorgen, die Akte „Verschwundene » endgültig zu schließen.
Zu den Massakern war es gekommen, nachdem die Islamische Rettungsfront FIS im Dezember 1991 die erste Runde der Parlamentswahlen gewonnen hatte. Daraufhin verhinderten Generäle den sicheren Sieg der FIS im zweiten Wahlgang, indem sie die Wahl aussetzten und sich selbst durch einen kalten Staatsstreich im Januar 1992 an die Spitze der Regierung setzten und die FIS kurz darauf verboten. Die politisch engagierten Islamisten gingen in den Untergrund. Schätzungen zufolge kamen in den Jahren darauf in Algerien rund 150000 Menschen ums Leben, darunter neben Terroristen, Polizisten und Militärs auch zahlreiche Zivilisten. Von diesem Bürgerkrieg war jedoch gerade der Süden der Sahara, wo die Touristen derzeit verschwunden sind, weitgehend ausgespart. Nur die Lager für mehrere tausend Islamisten befanden sich dort in der Wüste.
Im Laufe seiner Geschichte ist Algerien an Grausamkeit und Gewalt gewöhnt worden. Während des Befreiungskrieges gegen die Franzosen, von 1954 bis 1962, wurden nach algerischen Angaben eine Million Menschen getötet, nach französischen weniger als halb so viele. Doch auch das wäre entsetzlich viel für ein Land von damals nur zehn Millionen Einwohnern. Die französische Kolonialarmee bombardierte, veranstaltete Strafexpeditionen und deportierte. Die Befreiungsfront massakrierte gnadenlos in Dörfern, die sich dem Aufstand nicht anschlossen oder mit den Franzosen zusammenarbeiteten. Insgesamt gab es damals zwischen 60000 und 150000 Tote.
Schon die Unterwerfung Algeriens im 19. Jahrhundert hatten die Franzosen mit Methoden durchgesetzt, auf die heute niemand mehr stolz ist. Wenn Stämme sich nicht fügten, wurden ihre Dörfer, Vorräte und Felder verbrannt. In den ersten Jahrzehnten französischer Herrschaft ging die Bevölkerung Algeriens von vier auf zwei Millionen zurück.
Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen sind 31 Vermisste für Algerien eher ein Rätsel denn eine Tragödie. Dennoch: Menschen können spurlos verschwinden, aber nicht mehr als ein Dutzend Fahrzeuge. Wenn auch sie verschollen bleiben, könnte dies ein Indiz dafür sein, dass sie über Algeriens Südgrenze weggeschafft wurden.