Algerische Justiz setzt umstrittenes Amnestiegesetz um

Verbrechen bleiben ungesühnt

Algerische Justiz setzt umstrittenes Amnestiegesetz um

Reiner Wandler, Der Bund, 6. März 2006

In Chlef, im Nord-Westen des Landes, wurden am Wochenende 40 verurteilte Terroristen freigelassen, in der Hauptstadt Algier waren es mehrere Dutzend. Insgesamt sollen in den nächsten Tagen über 2000 Gefangene folgen. So sieht es ein Amnestiegesetz vor, das Präsident Abdelaziz Bouteflika am 28. Februar erliess. Die Betroffenen sitzen wegen Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ein.

Wer an Bombenanschlägen, Massakern und Vergewaltigungen beteiligt war, ist von der Amnestie ausgenommen. Das Gesetz sieht jedoch eine Revision der Urteile zur Strafminderung vor. Wer im Untergrund lebt, hat sechs Monate Zeit, sich den Behörden zu stellen. Dieses Angebot richtet sich an die mehreren hundert Kämpfer der noch immer aktiven Salafistischen Gruppen für Kampf und Predigt, wie auch an radikale Islamisten, die sich ins Ausland abgesetzt haben.
Die Amnestie ist Teil der «Charta für Frieden und nationale Versöhnung», über die im September 2005 abgestimmt wurde. 97,4 Prozent sollen gemäss Regierungsangaben damals für den Vorschlag Bouteflikas gestimmt haben. 79,8 Prozent der Wahlberechtigten seien an die Urnen gegangen. Wahlbeobachter berichteten jedoch einhellig von fast völlig leeren Wahllokalen.

Militär und Polizei geschützt

Das Amnestiegesetz stösst nicht nur bei vielen Angehörigen der über 150 000 Opfer des blutigen Konfliktes, der Algerien nach dem Abbruch der Wahlen 1992 erschütterte, auf Widerstand. Auch nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen sprechen sich dagegen aus. Denn das Gesetz diktiert neben der Haftentlassung für die Islamisten auch Straffreiheit für Mitglieder von Armee und Polizei, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren.
Gruppen wie SOS Disparus, eine Vereinigung von Angehörigen der über 20 000 Verschwundenen, werden somit vergebens auf Wahrheit und Gerechtigkeit warten. Zwar räumt ihnen das Amnestiegesetz das Recht auf Entschädigung ein, sofern sie den richterlichen Nachweis für das Verschwinden eines Familienangehörigen vorweisen können. Gleichzeitig untersagt das Gesetz jedoch die Strafverfolgung der Täter.

Reden über Gräuel verboten

Doch damit nicht genug: Wer gegen diese Politik protestiert, lebt künftig gefährlich. Denn wer weiterhin über Gräueltaten der Sicherheitskräfte informiert, muss wegen «Schwächung des Staates» oder weil er das «Bild Algeriens international trübt» mit drei bis fünf Jahren Haft und Geldstrafen in der Höhe von bis zu 4800 Franken rechnen. «Angesichts der Fülle von Zeugnissen und Beweisen über die Verantwortung der Armee, insbesondere des militärischen Sicherheitsdienstes, für massive Menschenrechtsverletzungen sollen die Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit strafbar gemacht werden», beschwert sich Algeria-Watch, eine Organisation, die die Menschenrechtslage in Algerien beobachtet.