« Wie können sie Menschen fangen und in der Sahara aussetzen? »
Von Klaus Brinkbäumer, Spiegel, 27. Juni 2006
Wut spricht aus seinen Worten. Und Verzweiflung. Wie können die Europäer Algerien dafür bezahlen, dass es Flüchtlinge sterben lässt, fragt N. Adam Progress, der Präsident von « The Valley », einer Stadt im algerischen Grenzgebiet. Die afrikanische Odyssee, prophezeit er, wird niemals gestoppt.
Hamburg – Es sind Tausende, die an den Grenzen lauern: auf Geld, auf diese eine Chance, die doch jeder Mensch in seinem Leben bekommen sollte, wenigstens eine. Sie wohnen dort in kleinen Städten. « The Valley » im algerisch-marokkanischen Grenzgebiet ist so eine Stadt. « The Valley » liegt fünf Kilometer vor Maghnia. Es ist ein Canyon, ungefähr 20 Meter hoch sind die Felswände. 160 Menschen leben hier, die meisten kommen aus Ghana, die anderen aus Mali, Senegal, Gambia, Kamerun, Nigeria, Kongo, Burkina Faso und Elfenbeinküste.
Sie hausen in Hütten aus Pappe. Die Pappe wird gegen Holzlatten genagelt, ein Wellblechstück kommt obendrauf, und wer Zeitungen hat, klebt sie von innen gegen die Wände. So wohnen sie. Jahrelang. Zehn mal fünf Meter ist eine Hütte groß, in manchen schlafen zehn, in anderen 20 Leute. Natürlich machen sie in ihren Hütten Feuer, weil es kalt ist in den algerischen Bergen, und diese Feuer sind gefährlich – immer wieder brennt eine Hütte ab.
Diese Menschen können nicht vor und nicht zurück, und ihre Städte sind Ghettos, die außerhalb der afrikanischen Gesellschaften liegen; hier findet man die, die in der Wüste ausgesetzt wurden, die Abgeschobenen, die, die von den Schleusern ausgetrickst wurden, die, die kein Geld mehr haben.
« The Valley » hat einen Fußballplatz, löchrig und holprig, aber mit zwei Toren; « The Valley » hat einen Präsidenten, eine Polizei, einen Knast, Soldaten, ein Sekretariat, einen Justiz- und einen Verteidigungsminister, eine Leibwache für die, die hinausgeschickt werden, um Wasser zu holen, ein Gericht und Regeln. Nicht stehlen, nicht töten, keine Korruption, das sind die Gesetze.
Kurz vor « The Valley », am Eingang des Canyons, stehen die Wachen, acht Mann und vier Hunde. Und das Gute ist, dass dieses Tal der Verzweifelten den Leuten wieder ein bisschen Würde gibt und eine Aufgabe. All diesen 20-, 25-Jährigen, diesen Kräftigen, Klugen, Jungen, die in unserer Welt keine Aufgabe haben.
« Das hier ist in Wahrheit der perfekt afrikanische Staat « , sagt Präsident N. Adam Progress, « das. » Präsident Progress hat eine Weltkarte in seiner Hütte hängen, fünf Mobiltelefone und zwei Fernbedienungen liegen auf seinem Schreibtisch, viele gelbe Zettel kleben hinter ihm an der Wand.
Präsident N. Adam Progress, Tamle, Ghana:
Wir sitzen hier, weil wir nicht nach Hause reisen können. Es wäre Scheitern, Versagen, Niederlage, es geht nicht; wer mit leeren Händen nach Hause kommt, muss aufs Neue aufbrechen, bis er Erfolg hat, warum also sollte man überhaupt nach Hause gehen? Weggegangen bin ich, weil ich das Visum, das ich beantragt hatte, nicht bekam – ich wollte mein Leben trotzdem selbst planen, wollte etwas erreichen. Ich bin Computeringenieur und Video- und Fototechniker. Wenn ich Arbeitsmaterial und auch nur winzige Aufträge gehabt hätte, wäre ich geblieben, aber es gab nichts. Gar nichts.
Und ich wollte einen Ort erreichen, wo ich überleben kann, ist das zu viel verlangt? Wo ich arbeiten und ein bisschen Geld verdienen kann, das ist doch nicht größenwahnsinnig, oder? Es gibt drei Möglichkeiten, wenn man gegangen ist: erfolgreich sein, sterben oder scheitern.
Wir hier im Tal sind die Gescheiterten.
Aber wir sind weit gekommen. Es gibt Gruppen, 30 Mann, von denen nur zehn hier ankommen, der Rest hat es nicht durch die Sahara geschafft. Kein Mensch erfährt jemals von denen, die in der Sahara sterben, dort oder später im Meer. Keiner kennt ihre Namen, keiner die Zahl.
Was wir uns hier in diesem Ghetto in diesem Tal geschaffen haben, ist ein Afrika, wie es sein könnte. Wir kommen zusammen und helfen uns. Es gibt Probleme, klar, die haben immer mit Geld zu tun. Aber wenn einer eine Waffe zückt, geht er für fünf Tage in den Bau, und ehrlich gesagt: Nein, wir haben hier weniger Probleme als sonst wo in Afrika, weil wir zusammenhalten und uns nicht gegenseitig bekämpfen.
Aber es wird nicht ewig gut gehen. Wir wissen, dass sie uns hassen. Die Algerier. Sie sind gekränkt, weil sie selbst keine Arbeit mehr haben, und sie würden uns töten, wenn sie könnten. Und ihr Europäer helft ihnen bei der Jagd auf uns, ihr gebt ihnen immer mehr Geld und fordert sie auf, uns zu jagen. Diese Aggressivität, diese Wut, das sind die Dinge, die ich nicht verstehe.
Wie kann irgendwer einen Menschen fangen und ihn in der Sahara aussetzen, einfach so? Wie kann man das tun? Einfangen, wegbringen, aussetzen, sterben lassen. Das machen die Marokkaner, das machen die Algerier, und ihr Europäer zahlt dafür, wie kann irgendjemand so etwas beschließen? Zwei Dinge sage ich euch. Erstens: Die Weißen haben Afrika als illegale Einwanderer betreten, oder hatte irgendein Sklavenjäger ein Visum? Zweitens: Die afrikanische Odyssee wird niemals gestoppt werden. Wenn ihr uns stoppen wollt, dann baut eine Mauer mitten im Meer, und baut sie bis hinauf in den Himmel.