Freischein zum Töten – « Warum ist Hamza tot? »

Freischein zum Töten -« Warum ist Hamza tot ? »

In Tazmalt kennt jeder den Schuldigen. Aber das Dorf schweigt…

Florence Aubenas, Tazmalt, Liberation, 8. Dezember 1998
Übersetzung aus dem Französischen: algeria-watch

Sechs Monate nach der Ermordung des Sängers Matoub Lounès hat seine Schwester am Sonntag in der Tageszeitung Le Monde das Ausbleiben einer Untersuchung kritisiert und ihren Zweifeln bezüglich der angeblichen Mörder Ausdruck verliehen. Diese seien längst aufgrund von Aussagen eines « Reumütigen » identifiziert, hatte die algerische Presse im Oktober erklärt. « Es gab keine Rekonstruktion des Tathergangs, keine Autopsie und auch keine ballistischen Untersuchungen, » empört sich heute die Schwester des Sängers. « Es gibt zu viele Unklarheiten. Ich glaube nicht, daß die GIA meinen Bruder getötet haben. Und wenn sie es waren, dann sind die Auftraggeber anderswo zu suchen. »

Über dem Dorf Tazmalt liegt ein Fluch. Hinter den schrägen Häusern, die sich den Hang hinaufziehen, wurde am hellichten Tage ein Mord begangen, vor der Hälfte der Einwohner des Dorfes einschließlich der Gendarmen. Fünf Monate später hat es noch keine Festnahme oder Anklage gegeben. « Das ist das Grundprinzip des Kriminalromans nach algerischem Muster, » erklärt ein Jurist. « Jeder weiß, wer der Mörder ist, aber die Geschichte besteht darin, alles zu unternehmen, damit niemand darauf kommt. » Es geschah am 28. Juni 1998. Es waren gut hundert Leute und fast alle hatten einen Stein in der Hand, an einer Straßenecke in Tazmalt. Drei Tage zuvor war der berberische Sänger Matoub Lounès weniger als 50 km entfernt ermordet worden. In der ganzen Region brachen spontane Unruhen Jugendlicher aus. Es ist zehn Uhr morgens im oberen Viertel, als Hamza Ouali sich von seinem Vater Mustapha verabschiedet, bevor er sich den Demonstranten anschließt: « Immer wenn es hier etwas Gutes gibt wie Matoub, muß es zerstört werden. Wir sind wie Leute, die Durst haben. Wir nähern unseren Mund dem geöffneten Wasserhahn und wollen gerade trinken, als plötzlich jemand von hinten die Wasserleitung unterbricht. Wir halten das nicht mehr aus. » Hamza Ouali, 17 Jahre, ist Gymnasiast. Eine Salve. Eine Gruppe Jugendlicher aus dem ganzen Ort befindet sich jetzt in 300 Meter Entfernung von der Daïra (der Sitz der Kommunalverwaltung). Dort haben sich einige Persönlichkeiten, fünfzig Gendarmen und eine Einheit zur Aufstandsbekämpfung eingefunden. In der aufsteigenden Hitze trippeln die Milizionäre des Dorfes wie Kantinenwirte und bringen den Vorgesetzten zu trinken.

Ein grauer Lada fährt lärmend durch den Staub. Er stoppt in der Nähe der Uniformen. Heraus kommt Smaïl Mira, 45 Jahre, Präsident der kommunalen Volksversammlung (APC, das Bürgermeisteramt), Chef der bewaffneten Zivilisten, der mächtigste Mann von Tazmalt. « Ich habe gesehen, wie er die Kalaschnikow eines der Gendarmen nahm, dann im Anschlag hielt und auf die Menge richtete. Die Menge, das waren wir, » erinnert sich ein junger Demonstrant. Man hört eine Salve. Hamza Ouali stürzt zu Boden. Zwischen Panik und Aufstand scheint die Menge verrückt geworden zu sein. Man hört Rufe: « Smaïl Mira – Mörder. » Und in offenkundiger Verwirrung wendet sich ein Vorgesetzter der lokalen Brigade an die Demonstranten: « Ihr wißt, wer getötet hat, die Familie weiß, wer getötet hat, und wir wissen, wer getötet hat. Aber ich fordere euch nachdrücklich auf, zur Ruhe zurückzukehren. » Seither liegt der Untersuchungsbericht im Schlaf.

« In Algerien beherrscht die Angst das Denken, » kommentiert ein Anwalt. « Unsere ganze Gesellschaft ist davon bestimmt, das Denken, das Verhalten, die Sprache. » Um auch nur seinen Namen zu nennen, wird die Stimme gesenkt. Mitten in einer Unterhaltung dreht man sich um, um zu sehen, ob nicht plötzlich etwas auftaucht, durch welchen geheimnisvollen Grund auch immer. Aber nein, niemand, eine Leere mit Straßenlaternen, prunkvoll, unpassend, aufgereiht wie in einem Obstgarten. Unpassend, aber überall, bestrahlen sie selbst in praller Sonne den Staub der gewundenen Gassen. « Diese Straßenlaternen sind hier, wie Sie sehen, zu einer Obsession geworden, » läßt ein Passant fallen. « Straßenlaternen. »

Smaïl Mira seinerseits ist unsichtbar. Im Ehrensaal des Rathauses offeriert sein Stab mit dem Ausdruck des Bedauerns Mineralwasser, ein weiteres Mal wiederholend, daß « er auswärts zu tun habe und es unmöglich sei, ihn zu treffen. » Während von ihm gesprochen wird, richten sich seine Finger eiligst auf das Fenster. « Sehen Sie nicht, dort auf der Straße? » Alle schütteln den Kopf. « Aber sehen Sie doch, die Straßenlaternen. » « Eine solche öffentliche Beleuchtung gibt es in der ganzen Wilaya (Präfektur) nicht noch einmal. Modern, beeindruckend, » gibt ein anderer Notabler von sich. Sie sind bereit, Stunden darüber zu sprechen, sie halten Vorträge, beglückwünschen sich.

Aber hat nicht Smaïl Mira den jungen Hamza Ouali getötet? Vor allem ein großes Schweigen. Und dann stoßen alle auf einmal einen Laut aus, schlagen sich auf die Brust, wetteifern in freundlichem Lächeln.  » Sie haben schon etwas gehört. « Aber das ist falsch. Aus Eifersucht. Man möchte ihm das Bürgermeisteramt streitig machen. » « Oder die Straßenlaternen. » Smaïl Mira ist vor allem eine ruhmreiche Geschichte, die des berühmten Kommandanten Mira, des erbarmungslosen Helden im Befreiungskrieg. Das Foto mit dem von Kugeln durchsiebten Leichnam des Vaters dient als Votivbild im Auto des Sohnes. Die Geschichte als Banner, die Gewalt als Legende, so präsentiert sich Smaïl Mira als harter Mann. « Ein Kind eines Schahid (Märtyrer der Unabhängigkeit) zu sein, öffnet alle Türen. Das ist eine Art Privileg, unbestreitbarer Legitimität, vielleicht der einzige Konsens, der in Algerien besteht. Alle haben für ihn gestimmt, und sogar die anderen Kandidaten stimmten zu, als er sich das erste Mal zur Wahl stellte, » erinnert sich einer von ihnen. Das war 1985, zur Zeit der Einheitspartei. 1991, nach dem Abbruch der von der FIS (Islamische Rettungsfront) gewonnenen Wahlen und der Ausrufung des Ausnahmezustandes ernennen die Regierungsstellen direkt die kommunalen Verantwortlichen.

In Tazmalt bleibt Smaïl Mira formlos an der Spitze der Kommune. « Damit war für uns alle klar, daß er die Unterstützung der Machthaber und von Freunden auf der höchsten Ebene hatte, » erzählt ein Händler. « In Algerien heißt das: du kannst alles machen. » Die Zeit eignet sich dafür, blutig, verworren. Einflußnetz. Selbst wenn Tazmalt wie die ganze Kabylei von der Gewalt relativ verschont wird, verdunkelt der Schatten des Konfliktes alles und erlaubt alles weitere. Im ganzen Land obliegt es den Kommunalverwaltungen, die Verteilung der ehemaligen Staatsgüter, kommunalen Böden, Gewerbelizenzen und Wohnungen zu verwalten. Ohne Kontrolle oder Rechtsmittel läuft alles über die Einflußnetze des APC – von der Gewährung eines Bankkredites bis zur Zuteilung einer Kinderbeihilfe -, eine ungeheure Macht in einem Land, das sich in einer nie dagewesenen wirtschaftlichen Krise befindet. « Mira hat sein Königreich darauf aufgebaut. Es gab die, die bedient wurden, und die anderen gaben die Sklaven ab, » sagt ein junger Arbeitsloser. « Und er…, in dieser ganzen Zeit stellt er die Straßenlaternen auf, aus Selbstgefälligkeit, wie ein Schleier über unser Elend. »

« Scharfschützenhandschuhe « 

Die Entstehung der « Patrioten », diese Milizen von Zivilisten, die vom Regime ab 1994 organisiert und bewaffnet wurden, führt dazu, daß diejenigen Kalaschnikows und Truppen erhalten, die eh schon das lokale Leben beherrschten. Die Zeit der Kriegsherren hat begonnen. Der Sohn des Kommandanten Mira fühlt sich am rechten Platz; er stolziert in Tarnuniform über die Straßen, die mit einer dünnen Asphaltschicht übergossen sind, grüßt einen Mächtigen und ignoriert die anderen. An der Zuschauertribüne des Versammlungsplatzes baut er seine Waffe vor sich auf. Manchmal trägt er Handschuhe. « Scharfschützenhandschuhe, » sagen die Kinder. Aber in dieser Region, die der Zentralmacht traditionell feindlich gesonnen ist, greift die Rekrutierung der Milizen nicht so recht. « Zu dieser Zeit ereigneten sich seltsame Dinge in Tazmalt, » erzählt ein Händler. « Da es hier keinen Terrorismus gab, begab es sich, daß die Einwohner zum Beispiel Drohbriefe erhielten, die von fiktiven islamistischen Gruppen unterzeichnet waren. Ich persönlich bekam auch einen. Ich habe darauf nicht reagiert. » Nach ihm sind dann schließlich einige spöttische Patrioten gekommen, um ihm mitzuteilen, daß « wenn ihm etwas zustoßen würde, es nicht von ihnen käme. » Der Händler erzählt weiter: « Viele Bedrohte sind in Panik geraten: sie haben eine Klash (Kalaschnikow) abgeholt und sich vom Bürgermeister anwerben lassen. Jetzt ist ein Habenichts zu jemandem mit einem Gewehr geworden. Die Waffen machen den sozialen Status aus. »

« Festungen »

Heute rühmt sich Smaïl Mira damit, mehrere Hundert Männer unter sich zu haben und eine der « Festungen » zu halten, die, von Bejaia bis Dellys, diese rebellische Kabylei der regierungsfreundlichen Milizen umgeben. Gegenüber seinen Freunden in der Hauptstadt beschreibt Smaïl Mira Tazmalt gerne als seine « Republik », in der ihm nichts entgeht. « Hier gibt es gewiß ein Recht, aber es heißt Smaïl Mira, » sagt ein Gastronom. « Gegenüber dieser Allmacht fühlt man sich bis ins Innerste verhöhnt. Wir sind so klein: wie könnten wir daran denken, uns zu erheben? Wie könnten wir es wagen, von dem zu sprechen, was dem Sohn des Ouali zugestoßen ist? Wir sind zu Menschen geworden, die wir selbst nicht wiedererkennen. » Er regt sich auf, wendet sich den aufgereihten Straßenlaternen zu. « Wenn ich es nicht mehr aushalte, spreche ich zu ihnen über sie: Bande von Dreckskerlen, ich hasse euch. » Vor dem Haus von Ouali, zwischen Knoblauchgehängen und dem Sittichkäfig, hängt ein Transparent: « Hamza, Märtyrer Algeriens ». Der Wind, der vom Berg herabweht, hat es mit feinem gelben Staub bestäubt. Im Haus dient das Wohnzimmer als Mausoleum, wo ein Foto des toten Kindes, das unzählige Male vervielfacht wurde, die Besucher starr anlächelt. Einige Stunden nach dem Tod klingelte das Telefon auf dem kleinen Tisch in der Nähe des Schuppens. Eine Stimme sagte: « Jetzt ist Ihr Sohn tot. Was können wir tun? » Mustapha Ouali, der Vater, mußte den Anrufer nicht bitten, sich vorzustellen. Wer in Tazmalt und besonders bei den Ouali würde Smaïl Mira nicht erkennen? Auf dem Schachbrett der Stämme, diesem Spiel der Bündnisse und Rivalitäten, das jedes algerische Dorf aufgliedert, sind die beiden Familien in der Tat Verbündete. « Um die Rechnungen in seinem eigenen Clan zu begleichen, muß man entweder sehr hitzig oder sehr mächtig sein. Also greift man zur Waffe, » sagt ein Dorfbewohner. « Aber die Ouali hatten nicht die Mittel für eine Rache. In diesem Fall verhandelt man, sonst bleibt man allein, außerhalb all der Clans, und das ist schrecklich. » Dem Bürgermeister, der sich der Straße, die beim Eskortieren des Leichnams seinen Namen skandiert, ausgesetzt sieht, antwortet Mustapha Ouali am Telefon: « Wir machen es, wie Sie wünschen, Herr Mira, Sie haben mein Vertrauen. Ich vertraue Ihnen völlig. » Die eine Seite des Gesichts. Beim Wiederholen des Satzes heute kommt der Vater durcheinander. Was hätte er tun müssen? Oder sagen? « Was wird aus Einem, wenn der Sohn ermordet wird und man nichts machen kann, außer Angst zu haben und gleichzeitig sich dieser Angst zu schämen? », sagt ein Nachbar. Durch die Unterstützung der FFS (Front des Forces Socialistes, Oppositionspartei), die allein die Forderung nach Gerechtigkeit erhob, konnte Mustapha Ouali schließlich Anzeige erstattet.

Senouci, der Sohn des Nachbarn, kommt nach Hause. Mit 23 Jahren hat er nur noch eine Hälfte des Gesichts: die andere wurde von der selben Salve zerfetzt, die Hamza am 28. Juni tötete. Er hat keine Anzeige erstattet. Er sagt: « Die Situation ist zu schwierig. Man muß stillhalten, das ist alles. » Einer seiner Freunde seufzt. « Es braucht ungeheuren Mut, um zu sprechen. Und was kommt dann? Die Akte ist geschlossen. Aber ich sage mit aller Bescheidenheit: wenn ich der Gendarm gewesen wäre, von dem er die Waffe genommen hat, hätte ich ihn auch nicht festgenommen. Wenn ich der Richter wäre, würde ich ihn auch nicht für schuldig erklären. Wir sind ein bis in die Knochen gelähmtes Volk. » Einschußlöcher. An der Straßenecke, an der Hamza Ouali zu Boden ging, zeigen Gruppen Jugendlicher die Einschußlöcher auf dem Rolladen eines Geschäftes. Im Juni waren alle « im Aufstand ». « In Tazmalt sind wir einfach so auf die Straße gegangen, so einfach wie die Sonne den Himmel hinaufsteigt. Das war natürlich für Matoub Lounès, aber vor allem gegen das System. Davor war alles schlimm, keine Arbeit, die Familien ernähren sich mit dem Geld des Großvaters, der seine Rente in Frankreich hat. Also wünschten wir, daß es einen Ausbruch gibt, einen Krieg oder irgendwas, damit endlich Schluß ist damit. Warum haben wir nicht das Recht, jung zu sein, nur daran zu denken, uns vor dem Spiegel zu frisieren, wie in einem wirklichen Leben? ». Am ersten Tag der Demonstrationen sind die Jugendlichen vor das APC gezogen, « wo alles Schlechte herkommt. Wir haben die Straßenlaternen zerstört, das war gut, als ob wir dem Bürgermeisters ins Gesicht geschlagen hätten. » Er war nicht im Dorf. Erst am zweiten Tag ist er zurückgekommen, um gegen 11 Uhr vormittags direkt vor der Daïra einzurauschen. Ein Gymnasiast zeigt die Hülsen, die er aufgelesen hat. « Doch was war der Beweggrund, der Hamza den Tod brachte? Wir wissen es nicht und wir alle wissen es. »

 

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