Bouteflika, die Armee und die « nationale Versöhnung »

Bouteflika, die Armee und die « nationale Versöhnung »

Was verbirgt sich hinter der Kampagne gegen den Präsidenten ?

Yassine Temlali, Le Jeune Indépendant, 24. Dezember 2000

In einem langen Artikel veröffentlicht die Zeitung Le Jeune Indépendant eine Analyse der letzten Ereignisse. Wir geben hier eine leicht gekürzte freie Übersetzung des Textes wieder.

Bouteflika sieht sich mit der größten Kampagne, seit seiner Übernahme der Präsidentschaft, konfrontiert. Dies ist nicht verwunderlich angesichts seines Schweigens gegenüber den letzten Massaker. Aber erstaunlich ist, daß die Angriffe von Parteien und Organisation ausgehen, die aktiv die « zivile Eintracht » unterstützt haben, trotz der Einwände, welche die Vereinigungen der Familien der Opfer des Terrorismus [die eine militärische Lösung fordern] und die Fürsprecher einer « globalen politischen Lösung » immer wieder zum Ausdruck brachten. Zu den lautesten Kritikern gehören die RCD und die RND, die Bouteflika zur Macht verholfen haben, und die ANR (1) , die im Grunde durch die Regierungskoalition aus der Agonie gerettet wurde. Plötzlich entdecken sie den Artikel im Gesetz zur « zivilen Eintracht », der festschreibt, daß Reumütige, wenn sie der Vergewaltigung oder des Mordes verdächtigt werden, vor Gericht gestellt werden müssen. Auch die Gewerkschaft, die damals ihre Mitglieder angehalten hatte, für Bouteflika zu stimmen, macht nun einen Rückzieher und ruft dazu auf, die Ränge hinter der Armee zu schließen. Die Milizen, die schon immer ihre Ablehnung für das Gesetz geäußert haben, protestieren lautstark und beschuldigen den Präsidenten, sie der Kritik von Amnesty International auszuliefern . (2)

Das Ende des Modus Vivendi zwischen Bouteflika und der Armee?

Demgegenüber schweigt der Präsident, der vor allem mit dem Image des Landes im Ausland beschäftigt ist und ein Embargo über die Berichterstattung über Sicherheitsfragen verhängen läßt. Dennoch verfolgen seine Widersacher ein anderes Ziel, als ihm die terroristische Gefahr bewußt zu machen: Die dutzenden, seit Februar 2000 verübten Massaker, die etwa 2000 Tote verursachten, haben es nicht vermocht, die Gemüter so zu erhitzen und ihnen den Zusammenhang zwischen dem Gewaltanstieg und den kontraproduktiven Konsequenzen der « zivilen Eintracht » nahe zu bringen. In der Tat, ähnlich wie die Opfer des schrecklichen Herbstes 1997, als der Terrorismus die Hauptstadt umzingelte, sind die ermordeten Schüler in Medea, die dezimierten Familien von Ain Defla und Relizane und darüber hinaus die Mehrheit der Algerier nichts anderes als gewöhnliche Statisten in einer Operation der Neubestimmung der Spielregeln in der Kohabitation zwischen der Armee und dem Präsidenten. Die aktuelle Kampagne gegen Herrn Bouteflika scheint in Wirklichkeit eher die Konsequenz des plötzlichen Verfalls der Beziehungen zwischen dem Präsidenten und den Militärs zu sein als ein Aufflammen des desinteressierten Scharfsinnes gegenüber der Zuspitzung der Bedrohung bewaffneter Gruppen. Sie ähnelt vielmehr einem « Vorbereitungsschuß », der eine Reihe von Arrangements und offensichtlichen unwirksamen Schlichtungen, darunter die zuletzt erfolgte Nominierung Larbi Belkheir’s im Präsidialamt, wegfegt.

Das Ziel dieser Unternehmung ist die Neuverteilung der Vorrechte zwischen Präsident und Armee. Wie vorher Zeroual ist Bouteflika dabei, die Illusion seiner Stärke ohne die organisierte Mobilisierung der traditionellen Verbündeten der Macht seit 1992, wahrzunehmen. In dem Zusammenhang werden die psychologischen Bedingungen für eine neue « Lösung der Krise » geschaffen, die wieder einmal, offensichtlich auf den Dialog mit den Islamisten der FIS basieren soll. In einer ähnlichen Operation der Destabilisierung hatte Zeroual es bevorzugt, « nach Hause zu gehen » und die Tür von El Mouradia hinter sich zuzuschlagen.

Die Geschichte einer bewegten Kohabitation

Im Kontext eines unerträglichen Drucks auf der internationalen Ebene, der mit einer tiefen monetären Krise einherging, konnte die Armee nichts anderes tun, als Bouteflika zu akzeptieren. Was den Militärs zunutze kam, ist seine Fähigkeit, Algerien aus seiner diplomatischen und ökonomischen Isolierung zu befreien. Er sollte zwar nicht aus innenpolitischen Kompetenzen ausgeschlossen werden, doch nicht zu einer großen Macht gelangen. Bouteflika wußte, daß er für das System die Rettung war. Er versprach sich, von der Schwächung der Armee zu profitieren.

Der erste Zusammenstoß fand statt, als Bouteflika zu verstehen gab, daß die Unterbrechung des Wahlprozesses im Januar 1992 ein Fehler war. Der zweite Fauxpas war seine Verurteilung der « fünfzehn Importeure, die ihr Diktat auf die Nationalökonomie » ausüben. Gleichzeitig gab er der Armee zu verstehen, daß er sie gegen die Angriffe wegen Menschenrechtsverletzungen verteidigen würde, wenn sie ihm mehr Spielraum ließe. Er hat es nicht gescheut, sogar in der Domäne der Verteidigung einzudringen, um die Nominierung einer seiner Mitarbeiter an der Spitze einer neuen Struktur, die direkt dem Präsidialamt angeschlossen ist, durchzusetzen. Als die Militärführung dieses ablehnte, ließ Bouteflika die Presseagentur berichten, daß die Armee sich in die Nominierungen der Regierung einmische, eine Aufgabe, die gemäß der Verfassung dem Präsidenten obliegt.

Aber auch auf der Wirtschaftsebene kollidieren Armeeführung und Bouteflika. Er wählte seine Mitarbeiter für entscheidende Posten. Es ist nicht so sehr das Prinzip der Privatiserung, das umstritten war, sondern vielmehr die Verteilung der Verantwortlichkeiten. In der Beziehung hat der Präsident einen Punkt gesetzt, und Herr Benbitour, der gegen die vollständige Aushebung der Staatsbetriebe war, ist zurückgetreten. Allerdings war dieser Sieg nur von kurzer Dauer. Bei den Diskussionen über das Finanzgesetz für 2001 hat die Partei RND, die Bouteflika unterstützte, schließlich mehrere Artikel blockiert.

Mittlerweile sind die Beziehungen zum Militär schlecht. Bouteflika hat viele Entscheidungen eigenmächtig getroffen (Nominierungen in Verwaltung, Justiz, im diplomatischen Dienst, etc.). Diese Bestrebungen nach Unabhängigkeit mißfallen den Militärs, die sich nicht einmal mehr sicher sind, ob der Präsident sie gegen die Kritik der Menschenrechtsorganisationen schützt. Er hat sich nicht geäußert, als diese die Militärs für das Verschwindenlassen von Tausenden von Menschen und andere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht haben. Um zu vermeiden, daß der Präsident noch mehr Spielraum erhält, haben sie Larbi Belkheir als Schiedsrichter zwischen den Konfliktparteien nominiert.

Ist Bouteflika für das Scheitern der « Eintracht » allein verantwortlich?

Die Kritiker Bouteflikas erwähnen vor allem das Scheitern der « zivilen Eintracht » und die Demobilisierung der Sicherheitskräfte aufgrund der Straffreiheit für Reumütige der AIS und LIDD (3). Mittlerweile distanzieren sie sich von dem Konzept der « zivilen Eintracht » und erachten es nicht als « Lösung der Krise ». Dabei scheinen sie zu vergessen, daß sie sie vormals unterstützt, und ihre kritischsten Aspekte, nämlich eine Amnestie für Täter, anfangs nicht beachtet haben. Sie wollen vergessen machen, daß die « Eintracht » nichts anderes ist als die Ausführung des im Oktober unterzeichneten Waffenstillstandes, und daß dieser von den Militärs gegen den Willen Zerouals ausgehandelt worden war. Dabei wird auch gerne übersehen, daß die Verantwortlichen der FIS und der AIS immer wieder betonen, daß die « zivile Eintracht » die politische Rehabilitierung der Partei vorsah. Für das Scheitern des Abkommens, das die GIA und die GSPC (4) von der Niederlegung der Waffen nicht überzeugt hat, ist nicht der Präsident allein verantwortlich.

Die Kritiker behaupten weiter, daß die Straflosigkeit der Terroristen eine unabhängige Entscheidung des Präsidenten sei. Die Armee soll der nicht zugestimmt haben. Aber es ist doch bekannt, welche herausragende Rolle die Sicherheitskräfte in den Bewährungskommissionen, die über das Schicksal der Reumütigen entscheiden sollten, spielten. Die Verurteilung der « Straffreiheit für Terroristen » dient dazu, die Verschlechterung der Sicherheitslage auf politische Fehler des Präsidenten zurückzuführen und die Sicherheitskräfte jeglicher Verantwortung zu entledigen. So war der Plan Seif el-Hadjadj (5) viel eher eine propagandistische Operation als ein wirklicher Militärschlag gegen die Terroristen. Im Grunde geht es darum, die Diskussion über die Fähigkeit der Armee, die bewaffneten Gruppen militärisch zu besiegen, zu umgehen. Mehr denn je müßte über die Verantwortung der Sicherheitskräfte für den Schutz der Zivilbevölkerung diskutiert werden: Diese sollten nicht bloß rituelle und wirkungslose Durchkämmungsoperationen sein, die den Anschlägen folgen, aber sie selten verhindern.

Diese Punkte sind nicht unwichtig, weil das Scheitern der « zivilen Eintracht » mit dem Lösungsansatz selbst zu tun hat, und alle Verantwortlichen, ob politische oder militärische, tragen die gleiche Verantwortung. Daß Bouteflika heute im Zentrum der Kritik steht, liegt auch an seiner anfänglichen Inanspruchnahme der Urheberschaft des Konzeptes der « zivilen Eintracht ». Es ist auch wichtig, diese Punkte in Erinnerung zu rufen, um deutlich zu machen, worum es eigentlich geht, nämlich um die Umwandlung der Herrschaft in eine zivile, die ihre Glaubwürdigkeit aus dem Einverständnis der Bürger und nicht der geheimen Einigung zwischen der Armee und den Islamisten zieht.

Eine Neuauflage der « nationalen Versöhnung »

Die jetzige Kampagne gegen den Präsidenten schlägt vor, den Krieg, der angeblich nach den Wahlen von 1999 unterbrochen wurde, zu intensivieren. Ist die Armee bereit, noch tiefer in den Sumpf der Terrorismusbekämpfung zu versinken, obwohl ihre Verluste Tag für Tag steigen, aber ohne jedoch nennenswerte Erfolge zu erzielen? Offensichtlich nein. Die Armee, die 1992 diesen langjährigen zerstörerischen Zermürbungskrieg nicht erwartet hat, ist nicht bereit, nur auf den Krieg mit seinen Zerstörungen, Toten, Isolierung Algeriens und vor allem die Forderungen nach Untersuchungen über Menschenrechtsverletzungen zu setzen. Im Gegensatz dazu scheint sie eine andere ihrer Karten der « nationalen Versöhnung » vorsichtig spielen zu wollen. Aber dies geht nu,r wenn ein politischer Wechsel vonstatten geht: die Schwächung Bouteflikas oder sein Abgang. Eine solche Option der « Versöhnung » harmonisiert nicht mit den Themen der Kampagne Bouteflikas. Man darf nicht vergessen, daß seit der Epoche des HCE (Hoher Staatsrat) die Präsidenten immer eingesetzt wurden nachdem ihre Vorgänger eine Welle der Verurteilung ihrer Dialogbereitschaft erleiden mußten. Dies hinderte die Nachfolger nicht daran, noch weiter auf den Weg des Dialoges vorzudringen, und hinderte die Armee nicht daran, von sich selbst das Bild einer kompromißlosen Institution in Sachen Islamismus der FIS aufrechtzuerhalten. So wurde Zeroual, im Gegensatz zu Ali Kafi als unerbittlicher « Ausmerzer » dargestellt, der dann schließlich – mit Zustimmung der Armee – zum wichtigsten Verhandler mit den Verantwortlichen der FIS wurde. Die Verhandlungen scheiterten zwar, führten aber dennoch zur Freilassung von mehreren Verantwortlichen der FIS, unter denen Boukhamkham als informeller Gesprächspartner die AIS von einem Waffenstillstand zu überzeugen suchte. Obwohl die Armee immer eng an den Entscheidungen mitgewirkt hat, genießt Zeroual allein den Ruf, die Versöhnung gesucht zu haben und derjenige gewesen zu sein, der direkt mit den politischen Chefs der FIS anstatt mit ihren « militärischen Brüdern » verhandelt.

Heute, wo die « Eintracht » in Verruf steht, ist es nicht ausgeschlossen, daß die Kampagne gegen Bouteflika zu unerwarteten Ergebnissen führt: Eine Neuauflage der « nationalen Versöhnung », die die Grenzen der militärischen Option und die Rufe der ausländischen Partner nach einer politischen Lösung berücksichtigt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die vollständige « Lösung » darin bestehen wird, die Freilassung von Abassi Madani und Ali Benhadj vorzusehen, damit sie die nötigen Schritte einleiten, um dem bewaffneten Kampf ein Ende zu setzen und dafür im Gegenzug eine symbolische Rehabilitierung der FIS erhalten. Der momentane Druck der Parteien (RCD, ANR, RND) und der Gewerkschaft würde sich als anachronistisch herausstellen. Auch diese Lösung wird, wie die « Eintracht », ihre Befürworter in den Kreisen derjenigen, die das Scheitern der zivilen Eintracht heraufbeschwören, finden. Anders ausgedrückt: wenn die Führer der FIS scheitern, ist der Gewinn doppelt: endgültige Diskreditierung der FIS und vollständige « Entpolitisierung » der terroristischen Aktivität. Das heißt keinesfalls, daß damit der Albtraum zu Ende wäre. Aber dadurch wird einmal mehr deutlich, wie die Bürger durch die Weigerung, freie Wahlen abzuhalten, marginalisiert werden. Die Wahlen von April 1999 hätten der Moment des Übergangs zu einer zivilen Regierung sein können, wenn die Armee sich aus den politischen Geschäften herausgezogen hätte und wenn Bouteflika sich nicht damit zufrieden gegeben hätte, von den Bündnissen, die die « Entscheider » um ihn geschlossen haben, beschützt zu werden.

Noch ist der Übergang zu einer Zivilherrschaft weit, und noch werden Dutzende Algerier vor der Gleichgültigkeit der Verantwortlichen sterben, und Hunderte von Terroristen ungeachtet ihrer Opfer begnadigt werden. Algerien ist noch nicht aus dem Sumpf heraus, in den es mit einer entwaffnenden Leichtigkeit an einem gewissen 12. Januar 1992 gesunken ist.

(1) RCD, Rassemblement pour la Culture et la Démocratie, eine kleine berberische Partei, die zwar eine militärische Lösung des Konfliktes bevorzugt aber sich der Politik des Präsidenten anfangs angeschlossen hat. Die RND, Rassemblement National Démocratique wurde von Ex-Präsident Zeroual ins Leben gerufen, um seiner Politik eine breitere Basis zu verschaffen. ANR, Alliance Nationale Républicaine ist die unbedeutende Partei des ehemaligen Premierministers Redha Malek, der sich immer für eine « Ausmerzung » der Islamisten ausgesprochen hat. (Anm. d. Übers.)

(2) Die Organisation Amnesty International macht in ihren Berichten zunehmend auf die Menschenrechtsverletzungen der Milizen aufmerksam und fordert ihre Auflösung. (Anm. d. Übers.)

(3) Ligue islamique pour la daawa et le djihad.

(4) Groupe salafi pour la prédication et le djihad.

(5) Zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur « zivilen Eintracht » wurde ein militärische Offensive ausgerufen, die die letzten bewaffneten Gruppen, die sich nicht ergeben, ausschalten sollte. (Anm. d. Übers.)

 

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