Das Schicksal schlägt Algerien

Erdbeben, Unwetter, Terrorismus

Das Schicksal schlägt Algerien

Donnerstag 22. Mai 2003, 17:11 Uhr

Paris/Algier (dpa) – «Algier ist wie ein Friedhof. Wahrscheinlich werden wir mehr als 1000 Tote bergen müssen.» Das war vor eineinhalb Jahren, als ein Zivilschutzmann vor den Trümmern der Armenhäuser von Bab el-Oued westlich der algerischen Hauptstadt stand und das Unheil noch nicht fassen konnte. Sätze, die auch nach dem schweren Beben vom Mittwochabend traurige Wahrheit werden könnten. Jetzt dringen aus dem Schutt eingestürzter Wohnblocks die Schreie derer, die nicht rechtzeitig ins Freie hatten laufen können.

Im November 2001 waren es schwere Unwetter. Meterhohe Schlammmassen hatten an Hügeln ganze Wohnviertel einfach mitgerissen. Das Erdbeben legt erneut einen Schleier von Tragik und Trauer über das auch politisch und sozial gebeutelte Land.

Panik folgt dem starken Beben um 19.45 Uhr Ortszeit. «Aus den Trümmern dringen Schreie», berichten hilflose Retter, «überall sind Menschen, die sich nicht selbst befreien können.» In einem Hotel in Boumerdes springen die angsterfüllten Gäste aus den Fenstern ins Freie. «Bei uns ist alles eingestürzt, ich habe so etwas in meinem Leben noch nicht gesehen», berichtete Yazid Khelfaoui aus Roubia. Seine Mutter ist unter den mindestens 100 Toten allein in dieser Industriestadt östlich von Algier. Was Regierungschef Ahmed Ouyahia schlicht eine nationale Katastrophe nennt, auf die man nie vorbereitet sein könne: Gebäude stürzen ein wie Kartenhäuser, ganze Straßenzüge sehen aus wie nach einem Bombenangriff. Und überall geht Angst vor neuen Beben um.

Jede Katastrophe von diesem Ausmaß übersteigt bei weitem die Möglichkeiten, die Algerien hat, um Überlebenden zu helfen. Diesmal zumindest ist Präsident Abdelaziz Bouteflika sofort zur Stelle, um sich noch nachts ein Bild von dem unvorstellbaren Elend und Chaos zu machen – und das Fernsehen war dafür selbstverständlich auch präsent.

Mit «Bouteflika – Mörder» hatten ihn empörte Jugendliche nach den Unwettern damals begrüßt, als er etwas spät den Katastrophenort vor den Toren Algiers besuchte. Denn die ganz offiziell zubetonierten Abwasser-Kanäle (um Terroristen keine Verstecke zu bieten) hatten die Lage damals dramatisch verschlimmert. Nach dem Erdbeben jetzt wurde gleich wieder Kritik an zu laschen Bauvorschriften in Algerien laut.

Die neue Naturkatastrophe trifft ein schon so lange von Gewalt, Krawallen, Bürokratie und sozialer Not erschüttertes Maghreb-Land. Wohnungen werden über korrupte Kanäle vergeben, Trinkwasser ist knapp und muss oftmals rationiert werden. Die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch – und dabei ist jeder zweite unter 25. Und jetzt wieder ein Schicksalsschlag, so als ob das Land nicht gestraft genug wäre von einem Jahrzehnt des Ausnahmezustands und des islamistischen Terrors mit insgesamt etwa 150 000 Toten. Und während die internationale Hilfe anrollt, wissen die leidgeprüften Algerier, dass sie auch vor den Erdbeben niemals sicher sein werden.