Friedensschluss von oben

Friedensschluss von oben

Die Algerier haben mit überwältigender Mehrheit für das Versöhnungs-Referendum gestimmt. Dennoch bleiben die Wunden des Bürgerkriegs offen

Von Michael Mönninger, ZEIT online, 30.9.2005

1992 begann für Algerien eine Epoche, die heute als das „schwarze Jahrzehnt“ bezeichnet wird: Ein Bürgerkrieg zwischen Islamisten und Regierungstruppen, der insgesamt 150.000 Tote und 6000 Vermisste gekostet hat. Damals hatte überraschend die Islamische Heilsfront die Wahlen in Algerien gewonnen. Um den Vormarsch der Fundamentalisten zu stoppen, verhängte die Regierung das Kriegsrecht. Anfangs kämpften die Rebellen vor allem gegen die ehemalige Kolonialmacht Frankreich und ihre algerischen Verbündeten. Denn auch nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 hatten die Franzosen in Nordafrika eine dezidierte Verwestlichungspolitik betrieben. Nach 1992 trugen die Kampfgruppen den Konflikt verstärkt auf französischem Boden aus und töteten bei Bombenanschlägen in Paris 1995 ein Dutzend Menschen.

Nachdem die französische Terrorabwehr die konspirativen Netzwerke der Algerier zerstört hatte, konzentrierte die „Bewaffnete Islamische Armee“ (GIA) ihren Kampf auf die Heimat. 1997 richtete sie beim Ramadan-Fest in Algier ein Massaker mit Tausenden von Zivilopfern an. Die Regierung reagierte ebenso brutal und tötete bei Razzien unzählige Rebellen. Seit die Widerstandskämpfer auch untereinander einen blutigen Bruderkrieg anzettelten, gibt es in Algerien kaum jemanden mehr, der im Bürgerkrieg nicht Freunde oder Verwandte verloren hat. Weil eindeutige Schuldzuweisungen nahezu unmöglich geworden sind, gibt es nur einen Ausweg aus der nationalen Katastrophe: ein gemeinsamer Friedensschluss zur Aussöhnung über die Gräueltaten.

Das will der seit 1999 amtierende Präsident Bouteflika jetzt mit seiner Volksabstimmung zur Annahme einer „Charta des Friedens und der Versöhnung“ erreichen. Selbst exilierte Vorkämpfer der islamischen Heilsfront haben ihre Landsleute zur Annahme der Charta aufgerufen. Das Gesetzespaket sieht Straffreiheit für immer noch aktive Kämpfer vor, wenn sie ihre Waffen ablegen. Zudem soll es eine begrenzte Generalamnestie für Rebellen geben, wenn sie nicht direkt an Massakern beteiligt waren. Vor allem profitieren von der Straffreiheit auch Polizei und Militär, die nun keinerlei Rechenschaft mehr über ihre Folterungen und Hinrichtungen ablegen müssen.

Doch die Wunden des Bürgerkriegs sind zu tief, als dass sie durch einen legislativen Federstrich geschlossen werden könnten. Trotz der hohen Wahlbeteiligung von 82 Prozent und der jetzt amtlich verkündeten Annahme des Referendums durch 97 Prozent der Wähler sehen viele Algerier darin keine Chance zur Versöhnung, weil zu viele Bluttaten ungesühnt bleiben.

Vor allem steht der autoritäre Präsident Bouteflika in dem Ruf, mit dem Plebiszit vor allem seine Macht stärken zu wollen. Seit Jahren arbeitet er eigenmächtig an einer Neuordnung der politischen Landschaft und will ohne ausreichende demokratische Legitimation die Verfassung zu seinen Gunsten umkrempeln. Sein wichtigstes Ziel ist dabei, zum Präsidenten auf Lebenszeit zu werden, indem er die Begrenzung seiner Amtszeit aushebelt.

Der Verdacht autokratischer Willkür und mangelnder Transparenz beschädigt auch das Versöhnungs-Referendum. Angesichts 6.000 Vermisster weigern sich Angehörige, der Regierung wie den Rebellengruppen einen Blanco-Scheck der Straffreiheit auszustellen. Bürgerrechtsgruppen verlangen gerichtliche Aufklärung über Erschießungen und Folterungen. Die Friedens-Charta ist in ihren Augen nichts wert, wenn sie nicht auf weiterer Aufklärung und Strafverfolgung beruht.

Ohne Kriegsverbrecherprozesse bleibt der von oben dekretierte Friedensschluss wirkungslos. Das nationale Trauma, das lange Zeit nach Rache geschrieen hat, fordert erst Gerechtigkeit, dann Versöhnung. Das ist zugleich der einzige Garant dafür, dass Algerien zu einem Rechtsstaat wird, der die aktuelle Zerreißprobe zwischen Bouteflikas Despotismus und dem religiösem Fundamentalismus übersteht.