X Fluchtgründe

X Fluchtgründe

Die nach Deutschland flüchtenden Personen kommen aus unterschiedlichen Kreisen und ihre Begründung der Asylantragstellung fällt dementsprechend unterschiedlich aus. Wir führen hier grob vier Gruppen auf:

Der größte Teil der AntragstellerInnen ist dem Umfeld der FIS zuzurechnen, aber auch Mitglieder von Hamas, an-Nahda und andere suchen Zuflucht. Im Zusammenhang mit der FIS kommen entweder Partei-Funktionäre, Mitglieder oder Sympathisanten, Personen, die in der Parteistruktur aktiv waren, sich als Abgeordnete zur Wahl gestellt haben, an den Universitäten aktiv oder in Moscheen tätig waren, Öffentlichkeitsarbeit geleistet haben, Flugblätter verteilt oder bei Demonstrationen zum Ordnungsdienst gehört haben usw. Auch Sympathisanten der FIS haben Asyl beantragt, weil sie als solche bekannt waren und ihnen Unterstützung einer illegalen Organisation vorgeworfen wird, oder sie von bewaffneten regimenahen Gruppen bedroht wurden.

Die zweite Gruppe besteht aus Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren aus Armee, Polizei und Sondereinheiten. Sie fliehen aus verschiedenen Gründen, sei es, daß sie bewaffnete islamische Gruppen fürchten, die den Einberufenen mit dem Tod gedroht haben, oder weil sie an der Terrorismus-Bekämpfung nicht teilnehmen wollen.

Die dritte Gruppe besteht aus Personen, die sich der demokratischen Strömung zurechnen und vor bewaffneten islamistischen Gruppen fliehen. Es sind Journalisten, Mitglieder von Gewerkschaften, Parteien, Vereinen, Frauenrechtlerinnen usw., die sich mit ihren Positionen exponiert haben, oder Ermordungen in ihrem Umfeld erlebten, selbst Drohungen erhalten haben, ihren Tätigkeiten z.B. als JournalistInnen, AnwältInnen oder ÄrztInnen nicht nachgehen können usw. In dem Zusammenhang wird gerne über die Gefährdung der ‘Intellektuellen’ gesprochen. Dieser Begriff ist etwas irreführend, weil er suggeriert, es gäbe keine Intellektuellen in der islamistischen Bewegung. Genauso unzureichend ist die Unterscheidung « arabophon » und « frankophon », weil sie auch eher eine ideologische Konzeption transportiert, als daß sie reale Sprachunterschiede zum Ausdruck bringt.

Schließlich fühlen sich auch viele Menschen von der Gesamtsituation verunsichert und bedroht, sei es, weil sie in einem Viertel lebten, das immer wieder von Durchkämmungsoperationen betroffen war, viele Menschen um sie herum verschwanden, oder weil sie nicht gewillt sind, Partei zu ergreifen, sich aber unter Druck gesetzt fühlen.

Diese etwas schematische Darstellung läßt außer acht, daß die Bedrohung und Verfolgung oftmals nicht genau zu bestimmen ist, von mehreren Seiten gleichzeitig ausgehen kann und sogar aus dem vermeintlich « gleichen » Lager herrühren kann. So kann ein FIS-Aktivist vom Staat verfolgt sein und von anderen vermuteten islamistischen Gruppen bedroht werden. Viele Mitglieder der FIS oder Hamas sollen von der GIA ermordet worden sein. Journalisten können einen Anschlag von bewaffneten islamistischen Gruppen befürchten, doch auch Sicherheitskräfte scheinen in manchen Fällen Journalisten getötet zu haben. Diese Verunsicherung, die wir darzustellen versuchten, läßt viele Menschen um ihr Leben bangen, zumal willkürliche Operationen, Ermordungen und Festnahmen, wahllose Vergeltungsaktionen von Sicherheitskräften, Todesschwadronen, Milizen und bewaffnete Gruppen und die daraus resultierende Verwirrung das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen erschüttert haben und kein Schutz von ihm zu erwarten ist. (Siehe Berichte von ai und UNHCR)

X-1 Mitglieder oder Sympathisanten islamistischer Parteien

Die Fluchtgründe für Mitglieder und Sympathisanten der FIS (aber auch anderer islamistischer Organisationen) sind nach den Erläuterungen im ersten Teil ausreichend dargelegt worden. Wir möchten dennoch bemerken, daß der Grad der Gefährdung nicht automatisch von der Art des Engagements bestimmt wird. Viele Faktoren zählen, und wenn mit großer Sicherheit gesagt werden kann, daß gewählte Vertreter der FIS oder Partei-Funktionäre und -Aktivisten von Verfolgung bedroht sind, können durchaus auch einfache Sympathisanten von der Polizei oder Armee verhaftet werden. Besonders die Personen, die in den Jahren vor 1992 den Sicherheitskräften aufgefallen sind (Demonstrationen, Öffentlichkeitsarbeit…) sind nach dem Abbruch der Wahlen (viele auch vorher) traktiert worden.

Nach dem Abbruch der Wahlen und den anschließenden Repressionswellen haben sich Menschen zusammen geschlossen, um die Familien getöteter, verschwundener oder inhaftierter Islamisten zu unterstützen. Oftmals waren die Motive rein humanitärer Art, und doch sind diese Unterstützergruppen von der Staatsmacht bedroht und werden verfolgt wegen Bildung « illegaler Organisationen ». In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, daß sämtliche karitativen, kulturellen und sozialen Einrichtungen und Assoziationen, die einen gewissen Bezug zur FIS hatten, verboten wurden.

Nicht zu vergessen sind auch Mitglieder islamistischer Organisationen, die von anderen islamistischen Gruppierungen entführt oder ermordet wurden, entweder, weil sie für einen Dialog plädiert haben, oder, weil sie sich nicht dem Druck dieser gebeugt haben. Das herausragende Beispiel ist der Vorsitzende der Hamas-nahen Assoziation El Irshad wa El-Islah, Bouslimani, für dessen Entführung und späteren Ermordung zuerst die anti-islamistische Gruppe OJAL die Verantwortung übernahm, dann aber die GIA, weil er – so die Erklärung – nicht akzeptiert haben soll, mit der GIA zusammenzuarbeiten. Auch Mitglieder der FIS, die sich von den Konfrontationen distanziert haben, sollen von bewaffneten Gruppen unter Druck gesetzt worden sein. Es wird auch davon berichtet, daß Personen aus Kreisen der FIS, die von Sicherheitskräften verhört wurden, nach ihrer Entlassung von FIS-Leuten entführt und unter Druck gesetzt werden, um zu erfahren, welche Informationen sie weitergegeben haben.

Wir wollen hier einige Berichte von Asylsuchenden in Deutschland wiedergeben. Von besonderer Bedeutung erscheint uns der Umstand, daß viele Mitglieder oder Aktivisten der FIS schon lange vor dem Verbot der Partei im März 1992 und der anschließenden Verfolgung eine Verhaftung, Inkommunikado-Haft und Mißhandlungen erfuhren:

Fall 1

In meiner Studentenzeit habe ich mich stark am Aufbau einer islamischen oppositionellen Jugendorganisation beteiligt, deren Nachfolgeorganisation 1989 legalisiert wurde. Im Oktober 1988 wurde ich fast einen Monat in einem Militärgefängnis inhaftiert und gefoltert wegen Vorbereitung und Beteiligung an Demonstrationen. Ich wurde zum Militärdienst eingezogen und schon nach einer Woche aufgrund meiner politischen Überzeugung so mißhandelt, daß ich 1 1/2 Jahre eine daraus resultierende Knieverletzung behandeln lassen mußte. 1990 wurde ich Mitglied der FIS und habe Organisations- und Koordinationsaufgaben in einem Regionalbüro übernommen. Im März 1992 wurde ich verhaftet, und nur wegen der Intervention eines regimefreundlichen Familienmitglieds kam ich nach 2 1/2 Monaten Haft und Folter bei einer Amnestie auf freien Fuß. Auflagen und Kontrollen der Sicherheitsbehörden ließen mich kaum zur Ruhe kommen. Aufgrund einer Ladung vor das Sondergericht wegen Vergehens gegen die Staatssicherheit (oppositionelle Betätigung) mußte ich, um einer Verhaftung zu entgehen, mein Land verlassen. Meine hier in Deutschland vorgetragenen Asylgründe wurden nicht berücksichtigt, ich bin zur Ausreise aufgefordert worden.

Fall 2

Meine Parteitätigkeit war zeitlich sehr begrenzt, weil die Verfolgungsmaßnahmen des Regimes diese unmöglich machten. Seit der Gründung der Partei war ich in der Zentrale der Stadt X für den Bereich Werbung und Sammlung von Spendengeldern zuständig. Das war Grund genug, mich innerhalb von einem Jahr dreimal zu verhaften, obwohl diese Tätigkeit für eine zugelassene Partei etwas ganz normales darstellt. Im Februar 1989 wurde ich das erste Mal festgenommen; drei Tage lang, ohne Nahrung, mit groben, beleidigenden und belastenden Verhörmethoden. Die Angst vor erneuter Verhaftung und vor diesem Druck hat mich nie wieder verlassen. Im August 1989 wurde ich mit drei Freunden verhaftet und fünf Tage festgehalten. Ich wurde 3-4 Mal täglich stundenlang verhört und oft geschlagen. Nach einer Reise in meiner Parteifunktion nach Frankreich wurde ich bei der Rückkehr am Flughafen verhaftet und weitaus schlimmer drangsaliert als vorher. Danach mußte ich auf Anweisung der Parteileitung in Algier meine Tätigkeit um meiner und meiner Familie Sicherheit willen stark einschränken und im Juni 1990 das Land verlassen, um einer weiteren Verhaftung zu entgehen. Drei meiner besten Freunde sind immer noch in Haft. Nach wie vor kommt es zu Verhaftungen im Familien- und Freundeskreis. Ich kann nicht nach Algerien zurück und ob ich Sicherheit vor Verfolgung in der Bundesrepublik erhalte, sprich Asyl, ist noch sehr fraglich.

Fall 3

Von Juni 1990, also nach den Kommunalwahlen bis zum Verbot der Partei 1992 war ich als Mitglied der FIS Chauffeur des Bürgermeisters der Stadt X. Ich möchte hiermit bezeugen, daß es immer wieder zu Verhaftungen, Bedrohungen, Hausdurchsuchungen und Observierung von FIS-Mitgliedern durch die Sicherheitskräfte kam. Im oben genannten Zeitraum der Zulassung als politische Partei wurde ich zehnmal verhört. Die Sicherheitsbehörden wollten unter Drohungen und Schikanen Namen, Daten, Strukturen, Orte, Zusammenkünfte, Aktivitäten der Partei ‘ermitteln’. Dabei hatte ich noch Glück: ich war weder ‘verschwunden’ noch gefoltert, noch längere Zeit inhaftiert, wie viele meiner Parteifreunde.

Nach meiner Flucht aus Algerien wurde ich in Abwesenheit zu fünf Jahren Haft verurteilt. Einige meiner Parteifreunde, mit denen ich zusammengearbeitet habe, sitzen noch in Haft. Meine Fluchtgründe sind weder für das Bundesamt noch für das Verwaltungsgericht ausreichend. Ich soll die BRD verlassen, habe aber keine Fluchtalternative…1

X-2 Mitglieder oder Sympathisanten nicht-islamistischer Parteien

Diese Personengruppe, die gemeinhin « demokratisch » genannt wird, setzt sich zusammen aus unterschiedlichen Strömungen, die eine Gemeinsamkeit verbindet: ihre Opposition zum islamistischen Projekt. Aber darüber hinaus sind die Tendenzen und Konzeptionen so unterschiedlich, daß kein einzelner Begriff sie zu umfassen vermag. Entscheidend für ihre Gefährdung ist in erster Linie ihr Standpunkt hinsichtlich der Bekämpfung der Islamisten: während einige unter ihnen die militärische Option befürworten und damit Zielscheibe islamistischer bewaffneter Gruppen sind, setzen sich andere für eine politische Lösung ein und können dadurch auch gefährdet sein durch Sicherheitsorgane oder anderen Gruppen. Die GIA hat Drohungen ausgesprochen gegenüber Journalisten, die die militärische Option unterstützen, Sicherheitskräften, Staatsbeamten, FranzösischlehrerInnen, Mitgliedern des Justizapparates, die mit dem Regime kooperieren, GewerkschafterInnen, Mitgliedern laizistischer Parteien (Ettahadi, RCD), Frauenrechtlerinnen (z.B. RAFD2) usw. Sie haben des öfteren ein Ultimatum gesetzt, wie im Falle der Ausländer, die das Land verlassen sollten (November 1993) aber auch Personen aus islamistischen Kreisen (auch aus der FIS), die sich für einen Dialog einsetzen oder neuerdings die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen akzeptieren. Geschäftsleute und andere werden unter Druck gesetzt, damit sie den bewaffneten Gruppen Abgaben entrichten, Waffen aushändigen usw. Die Anschläge auf Infrastruktur, Fabriken, Schulen, Bahngleise, Brücken sind nicht mehr zu zählen, wenn auch hier die Urheberschaft in manchen Fällen bezweifelt wird.3

An dieser Stelle möchten wir nochmals betonen, daß es im Interesse des Regimes liegt, nicht nur eine allgemeine Konfusion zu erzeugen, in der Angst und Unsicherheit dominierend sind, sondern die Meinungen in Algerien wie auch im Ausland dahingehend zu manipulieren, daß ausschließlich islamistische Kräfte für den Terror verantwortlich gemacht werden. Dies ändert gewiß nichts an der Gefährdung bestimmter Personen, die entweder ganz persönlich Drohungen erhalten haben, in Form von Anrufen oder Briefen (oftmals in Form eines Stücks weißen Leinenstoffes) oder sich verfolgt fühlen, weil sie Angehörige einer bestimmten Berufsgruppe oder politischen Tendenz sind. Wenn sie für ihre Positionen bekannt sind, verlassen sie ihre Wohnung, ihr Viertel und kommen bei Freunden unter. Wenn sie exponierte Persönlichkeiten sind, müssen sie den Aufenthaltsort immer wieder wechseln, ihre Familien meiden, um sie nicht zu gefährden, unregelmäßige Zeitpläne einführen, verschiedene Wege zur Arbeit nehmen usw. Selbst in diesem Fall können sie sich des Schutzes durch den Staates nicht sicher sein und müssen mit Hilfe von Bekannten und Freunden ihre eigene Sicherheit garantieren. Der Druck ist enorm, und die psychische Verfassung leidet ungemein darunter. Oftmals sehen sie keine andere Möglichkeit als das Land zu verlassen.

Wir wollen hier einige Zeugnisse wiedergeben, die deutlich machen, warum Personen, die nicht dem islamistischen Lager zuzuordnen sind, sich genötigt sehen, das Land zu verlassen:

Fall 4

Dalila Meziane ist 37 Jahre alt und war in Algerien als Rechtsanwältin tätig. Aufgrund der Angriffe von militanten islamischen Fundamentalisten hat sie versucht, in Frankreich politisches Asyl oder den Status eines politischen Flüchtlings zu bekommen. […] Sie ist seit vielen Jahren politisch aktiv und kam aufgrund ihres gewerkschaftlichen und frauenpolitischen Engagements schon früh in Konflikt mit den Strukturen des algerischen Staates. Neben ihrer Tätigkeit als Rechtsanwältin arbeitete sie seit 1990 hauptsächlich für eine wöchentliche Radiosendung mit rechtlichen Ratschlägen für Frauen. Ihre Aktivitäten wurden in Algerien nicht gerne gesehen. Sie wurde immer wieder von islamischen Fundamentalisten bedroht, ihre Wohnung wurde zerstört, sie wurde tätlich angegriffen. Die Einschüchterungsversuche steigerten sich von Mal zu Mal. […] Es war für Dalila Meziane ein Alptraum. Um Kraft zu schöpfen, ging sie im November 1992 für drei Monate nach Frankreich. […] » Die Drohungen setzten sich nach ihrer Rückkehr fort. « Nachdem man ihr ein Leichentuch zugeschickt hatte und fünf Meter neben ihr eine Bombe explodiert war, die drei Polizisten tötete, kam sie im März 1993 erneut nach Frankreich und stellte ein Asylgesuch. » Dieses wurde bislang abgelehnt mit der Begründung, diese Art von Angriffen würden nicht vom Staat toleriert oder gefördert werden.4

Fall 5: Brief zweier Journalisten, die Algerien verlassen haben

Wir Intellektuelle verstecken uns vor den Islamisten, die jungen Sympathisanten der Islamischen Heilsfront (FIS) verstecken sich vor Todesschwadronen und der Armee, die unbeteiligte Bevölkerung vor allen dreien… Als ich beschloß mein Land zu verlassen, war die Gefahr nicht der Hauptgrund. Schwerer wog die Einsicht, daß ich in Algerien meinen Beruf nicht mehr ordentlich ausüben kann… Auch Sprachregelungen sind vorgeschrieben: allein die Tatsache, daß wir hier ‘Islamisten’ schreiben und nicht ‘Terroristen’ würde in Algerien geahndet werden. Die Repressionstruppen heißen ‘Sicherheitskräfte’, ihre Aktionen sind grundsätzlich ‘ein großer Erfolg’ und ‘heldenhaft’. Wir sind gehalten, die Greueltaten der radikalen bewaffneten Gruppen durch Überzeichnungen und perverse Details auszuschmücken. Übergriffe der Militärs auf die Zivilbevölkerung sind dagegen tabu: Wir dürfen weder über Folter und summarische Erschießungen, noch über die Napalm-Bombardements schreiben. Kein Wort darüber, daß Präsident Boudiaf und der Psychiater Boucebci vom Regime ermordet wurden, daß die Islamisten ganze Landstriche kontrollieren, daß der demokratische Oppositionschef Ait-Ahmed auf einer Todesliste der Generäle steht. Manchen Kollegen geht das leicht von der Hand. Der schlimme Terror der Islamisten liefert ihnen einen Vorwand, alle kritische Distanz zu den Generälen fallenzulassen…5

Fall 6

Immer wieder wird auch hier in Deutschland über die Ermordungen von Polizisten und ihren weiblichen Familienangehörigen von der GIA berichtet. Es ist allgemein bekannt, daß diese und auch andere Gruppen Sicherheitskräfte mit dem Tod bedroht haben, wenn sie nicht ihren Dienst quittieren. Weniger bekannt ist der Umstand, daß viele Polizisten von Kollegen umgebracht werden. (Vgl. VIII-3-6) Noch seltener wird darüber berichtet, daß auch Frauen von Sicherheitskräften bedroht oder ermordet werden. Folgender Bericht ist insofern interessant, als daß er die allgemein verbreitete Meinung, ausschließlich islamistische bewaffnete Gruppen würden Polizisten und ihre Angehörigen bedrohen und ermorden, widerlegt.

Frau Z. war mit einem Polizisten verheiratet, der etwa sechs Jahre im Dienst war. Er erzählte ihr selten etwas über seine Arbeit, da er sich durch die Schweigepflicht gebunden fühlte. Sie stellte dennoch fest, daß er nach dem Dienst sehr aufgebracht nach Hause kam. Im Herbst 1994 kam er eines Tages von seiner Schicht sehr aufgeregt zurück und sprach viel: mehrere seiner Kollegen von der Polizei, die normale Stadtteildienste machten, seien von Spezialeinheiten getötet worden. Er könne dies nicht akzeptieren, zumal sie angesehene und im Viertel beliebte Beamte gewesen seien. Er sagte, es sei ihm unerträglich, in einem solchen System weiterzuarbeiten. Der nächste Vorfall ereignete sich etwa einen Monat später. Er kam völlig aufgelöst vom Dienst zurück und berichtete, er sei mit seinen Kollegen während des Streifendienstes in der Nacht von einer Gruppe angegriffen worden. Einer seiner Kollegen sei getötet worden. Während der Auseinandersetzung habe er einen ehemaligen Kollegen wiedererkannt – und dieser habe ihn auch erkannt. Danach stand sein Beschluß fest: er wollte kündigen. Sein Antrag auf Entlassung wurde aber strikt abgelehnt. Er rechnete tagtäglich mit einem Anschlag, unter Freunden sprachen sie davon, doch konnte er mit keinem Schutz rechnen und eine Desertion war auch sehr schwierig.

Drei Wochen später wurde er nach seinem Dienst vor der Haustür niedergeschossen. Frau Z. und die Nachbarn riefen nicht die Polizei, sie gingen davon aus, daß diese informiert war und es ein Sicherheitsrisiko gewesen wäre: einer der Anwesenden hätte herausschreien können, was alle schon wüßten: der Staat ließ seine Sicherheitskräfte ebenso töten. Zudem befürchteten sie, daß ihnen der Leichnam nicht freigegeben worden wäre.

Frau Z. ging zu ihren Eltern. Eine Woche später erhielt sie einen anonymen Anruf, in dem ihr gedroht wurde: « Du bist eine tote Frau. Wir werden dich töten, wie wir deinen Mann getötet haben. » Die Familie entschied sie zu Verwandte in einer anderen Stadt zu bringen. Dort war sie kaum eine Woche, als sie erneut einen Anruf erhielt, in dem die selbe Stimme ihr drohte. Sie hatte das Haus kein einziges mal verlassen. Die Familie beschloß sie aus dem Land zu bringen. Sie wurde an einer anderen Stelle versteckt und nach Deutschland gebracht, wo sie einen Asylantrag stellte.6

Fall 7

Im Oktober 1992 begann ich mein Studium und wohnte im Studentenwohnheim. Ich schloß mich der Union Générale des Étudiants Libres (UGEL) an, die an der Hochschule ganz gut organisiert waren. Zu dieser Zeit begann die UGEL mit der Vorbereitung einer Demonstration gegen die zunehmende Gewalt in Algerien. Ich beteiligte mich an den Diskussionen und verteilte Aufrufe zur Demonstration. Es nahmen etwa 800 Studenten an der Demonstration teil. Wir begannen morgens mit einem Marsch zum Hauptgebäude, in dem auch die Leitung und Verwaltung der Universität sich befand. Wir umstellten diesen und verlasen eine Resolution, die wir auch in schriftlicher Form dem Dekan überreichten. Polizei und Militärs waren anwesend, doch griffen sie nicht ein. Wir forderten ein Gespräch mit der Leitung, doch fand dieses nicht statt. Nach etwa drei Stunden, in denen keiner uns anhörte und wir nur den Sicherheitskräften gegenüberstanden eskalierte das Ganze. Wir wollten nicht, daß der Studienbetrieb « einfach » so weiter lief. Einige von uns warfen Fensterscheiben ein und begannen die Stühle eines Hörsaals mit Teer zu beschmieren. Die Sicherheitskräfte schritten sofort ein: Panzerfahrzeuge setzten sich in Bewegung, Transportfahrzeuge fuhren vor und die Studenten wurden zusammengetrieben und eingekesselt. Direkt in meiner Nähe fuhr ein Panzerfahrzeug einer Studentin, die nicht schnell genug ausweichen konnte, über die Beine. Sie setzten Tränengas und Schlagstöcke ein, und etwa 100 Studenten wurden zu diesem Zeitpunkt festgenommen und abtransportiert. Die Verhaftungen gingen aber noch Tagelang weiter.

Ich war in einer Gruppe von etwa zehn Studenten. Die Sicherheitskräfte schlugen auf uns ein, mit Gewehrkolben, traten uns und trieben uns zu den Transportfahrzeuge. Wir wurden in die Gendarmerie gebracht. Die ersten Verhöre fanden in einem großen Raum statt. Danach wurden wir in Einzelzellen untergebracht. Ich wurde täglich einmal aus der Zelle zum Verhör abgeholt. Das war schlimm. Sie prügelten und beschimpften uns. Sie wollten vor allem wissen, wer aus der Studentenschaft der FIS nahestand und sich bei der Demonstration beteiligt hatte. Am schlimmsten waren die Elektroschocks im Genitalbereich. Ich wurde auch erkennungsdienstlich behandelt. Ich wurde keinem Richter vorgeführt und in den 15 Tage, die ich dort verbrachte konnte ich weder zu meiner Familie noch einem Anwalt Kontakt aufnehmen. Dann wurde ich freigelassen.

Ich erhielt eine schriftliche Mitteilung des Rektorats, daß ich vorsprechen sollte. Man teilte mir mit, daß ich exmatrikuliert sei. Auch mit meiner Familie hatte ich Probleme, sie machten mir Vorwürfe: jedesmal wenn sich etwas in der Gegend ereignete, ein Anschlag auf das Kommissariat o.ä. kam die Polizei auch zu uns und verhörte mich. Wenn ich mich mit Bussen fortbewegte, um in anderen Städten mich in einer Universität zu bewerben, mußte ich Straßensperren passieren, bei denen ich immer Probleme hatte, da ich mein Name im Computer stand. Meine Suche war sowieso vergeblich, weder erhielt ich eine Arbeit, noch konnte ich mich an einer Universität einschreiben.

Bald erhielt ich meine Einberufung zum Militär. Ich wollte nicht unter diesen Umständen meinen Dienst ableisten. Ich ging schon nicht zur medizinischen Untersuchung und setzte mich ab. Bis zu meiner Ausreise aus Algerien hatte die Militärpolizei schon nach mir gefragt und mich gesucht. Nach meiner Flucht aus Algerien ist für meine Eltern keineswegs Ruhe eingetreten.

Ich erfuhr von Familienangehörigen, daß meine Akte des algerischen Konsulats zur Überprüfung meiner Personalien in der Polizeidienststelle meines Geburtsort vorliegen würde, d.h. auch, daß bekannt ist, daß ich einen Asylantrag gestellt habe. Als ich einen Freund bat, mir eine Ledigkeitsbescheinigung mit einer Vollmacht von mir zu besorgen, verweigerte man ihm die Ausstellung mit der Begründung, ich hätte einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Ich kann nicht zurück nach Algerien, da ich desertiert bin und Angst habe vor der Willkür der staatlichen Verfolgung.7

Fall 8

Das VG Ansbach bejahte zugunsten eines Klägers, der Mitglied in der Algerischen Liga für Menschenrechte war, mit Urteil vom 25. Juli 1994 das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 53 Abs. 4 Ausl.G.

Nach Auffassung der Kammer war davon auszugehen, daß der Kläger wegen verschiedener, ihn in den Augen der religiösen Fundamentalisten belastender Umstände bereits besonders aufgefallen war und als eine Person anzusehen war, die diesen in besonderen Maße verhaßt sei. Von daher hielt es die Kammer für keineswegs unwahrscheinlich, daß der Kläger nach einer gegen ihn ausgesprochenen Todesdrohung bei einem weiteren Verbleib in Algerien « hingerichtet » worden wäre oder sonst Maßnahmen ausgesetzt worden wäre, die sich als unmenschliche und erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK darstellen.8

X-3 Desertierte Soldaten, Sicherheitskräfte und Polizisten

Wir haben bereits Zeugnisse von desertierten Sicherheitskräften hier wiedergegeben, die ihre Gründe für das Verlassen des Landes deutlich genug erläutern (VIII-3 bis 6). Es sei hier jedoch noch erwähnt, daß aufgrund der Verhängung des Ausnahmezustandes die Vergehen von Sicherheitskräften nach dem Militärstrafrecht (die Desertion ins Ausland wird in den Artikeln 255-270 des algerischen Militärstrafgesetzes geregelt) mit dem Strafmaß wie in Kriegszeiten geahndet werden. Dies bedeutet, daß für Desertion ins Ausland eine 10-20 Jahre lange Zuchthausstrafe vorgesehen wird (Art. 262). Wenn der Angeklagte auch noch der Teilnahme an einer Verschwörung beschuldigt wird, erwartet ihn eine lebenslängliche Strafe (idem). Bei Offizieren wird das Höchstmaß angewandt.9 Wenn der Deserteur seine Waffe mitnimmt, droht ihm die Todesstrafe (Art. 265). Auf eine Anfrage des Verwaltungsgericht Ansbach antwortet ai im Juni 1995:

Viele Polizisten sind in Algerien in den vergangenen drei Jahren zur Terrorismusbekämpfung herangezogen worden. Dabei wurden viele Polizei- und Armeeangehörige im Rahmen der Gewalt- und Terrorismusbekämpfung aus ihrem regulären Tätigkeitsbereich heraus zu speziellen Einsätzen und Patrouillenfahrten in Sondereinheiten oder Spezialbrigaden abgeordnet. Auch die Streifen- und Patrouillendienste, insbesondere in den Städten, wurden enorm verstärkt. Diesen Einsätzen ging häufig ein mehrwöchiges bzw. mehrere Monate andauerndes militärisches Training voraus.

Es hat in dem vergangenen Zeitraum Hunderte von Anschlägen auf Polizeistreifen oder einzelne Polizisten und sogar auf deren Familienangehörige gegeben, wobei eine Vielzahl der Betroffenen zu Tode kamen oder verletzt wurden. Von diesen Angriffen durch bewaffnete islamistische Gruppen waren ebenso einfache Polizisten als auch führende Funktionsträger der algerischen Sicherheitskräfte betroffen.10

Obwohl sicher ist, daß im Falle einer Festnahme Angehörige dieser Berufsstände mit einer erheblichen Strafe zu rechnen haben, ist ai nicht bekannt, ob Polizisten in einem Militär- oder Zivilgefängnis inhaftiert werden. Soldaten, die desertieren, unterliegen dem Militärgesetz, bei Polizisten hängt die Bestrafungsgrundlage von dem vertraglichen Dienstverhältnis ab. Es ist nicht ausgeschlossen, daß aufgrund einer Tätigkeit im Rahmen der Anti-Terrorismus-Bekämpfung desertierte Polizisten den militärischen Behörden überstellt werden.11 Angehörige dieser Personengruppen können sich nicht der Vorbereitung und Tätigkeit im Rahmen der Terrorismusbekämpfung widersetzen und – soweit ai bekannt – nicht kündigen.

Fall 9

Herr S. berichtet vom Dienst bei der Polizei (Section des Renseignements Généraux, SRG, Ermittlungsabteilung), der für ihn den Militärdienst ersetzt:

Ich wurde oft Zeuge von Grobheiten, Schlägen und Folter, die bei den Verhaftungen und Ermittlungen an der Tagesordnung waren. Es fiel mir oft schwer, Befehlen Folge zu leisten. Man konnte weder Fragen stellen, noch Dinge in Frage stellen. Bald hatten die Kollegen meine ‘Empfindlichkeiten’ mitbekommen… und mein Vorgesetzter beschuldigte mich, den Islamisten mindestens nahezustehen… Ende 1991 wurde ich versetzt. Vorher hatte ich noch meine Demission eingereicht, die abgelehnt wurde.

Nachdem ein Polizeipatrouillenwagen von einer bewaffneten Gruppe überfallen worden war, wobei 5 Polizisten getötet wurden, organisierte unser Kommissar einen gezielten Gegenschlag. Der in Recherchen ausgemachte Standort des Lagers einer bewaffneten Gruppe wurde in Kooperation mit Militäreinheiten und Gendarmerie umzingelt. Der Angriff fand in der Nacht statt. Wir überraschten die Gruppe und mußten feststellen, daß es 15 Menschen waren, von denen nur zwei bewaffnet waren. Die anderen konnten ebensogut Bewohner des nahegelegenen Dorfes sein, ihre Unterstützer sozusagen. Mein Chef gab Befehl, sie zusammenzutreiben. Wir bekamen den Befehl, sie zu erschießen. Ich weigerte mich. Der Chef schrie mich an. Ich blieb bei meiner Haltung. Die Konsequenzen folgten. Zuerst ein Verhör vor dem Conseil de discipline, eine Art Tribunal. Mir wurde vorgeworfen, mit den Islamisten zu sympathisieren. Ich wurde aus der SRG herausgenommen und in anderen Dienststellen völlig isoliert. Oft wurde ich beschimpft, bedroht. In unserer Wohnsiedlung umkreisten acht Ninjas die Gebäude, schossen um sich und in die Hauswände und brüllten: ‘Wir bringen dich um’. Wenig später schrie mich mein Chef an, als ich dienstlich in sein Büro mußte: ‘Bei Allah schwöre ich, daß ich dich umbringe’.

Zwei Freunde von mir, die ich noch aus der Polizeiakademie kannte, waren 1992 Opfer von Ninjas geworden. Sie hatten eine vergleichbare Vorgeschichte: man warf ihnen FIS-Sympathien vor, sie wurden durch Berichte belastet, der Conseil de discipline hatte sie scharf angegriffen und danach waren sie exekutiert worden. Da mir das gleiche blühte, verließ ich während meines Urlaubs Algerien. Danach wurde meine Familie mehrmals von der Polizei aufgesucht. Mein Bruder wurde für 24 Stunden festgenommen und beschuldigt, mit Islamisten zu sympathisieren. Meiner Mutter wurde von Ninjas auf der Straße ein Leerformular für die Identifikation von Toten vor die Füße geworfen.

Im Januar bekam meine Familie die Mitteilung, daß ich unehrenhaft aus dem Polizeidienst entlassen sei. In Algerien erwartet mich Gefängnis. Ich kann unter den herrschenden Bedingungen nicht in mein Land zurückkehren, da mir Gefahr für Leib und Leben droht.12

Fall 10

Mein Vater bekleidet einen relativ hohen Posten als Militär. Ich selbst bin eher ein Außenseiter in der Familie und unpolitisch. Wegen der Position meines Vaters brauchte ich keinen Militärdienst absolvieren. 1993 veranlaßte mein Vater, daß ich eine Ausbildung als Büroangestellter in einer Armeedienststelle erhielt. Nach einigen Monaten teilten mir meine Vorgesetzten mit, daß ich von der Sécurité Militaire übernommen würde. Ich konnte nichts dagegen tun. Die nächsten vier Monate waren reine Kasernenausbildung, eine Ausbildung in Spionagetätigkeit. Wir waren in Gruppen von jungen Männern und Frauen aufgeteilt und lernten diverse Techniken. Im Anschluß daran wurde ich in einer Gruppe eingesetzt, die mit der Observierung von Militärs beauftragt wurde. Für mich war die Situation sehr belastend, da ich diese Tätigkeit nie ausüben wollte. Ich hatte anfangs andere Vorstellungen gehabt von meiner Tätigkeit, aber wenn man einmal dabei ist, kommt man nicht mehr heraus. Der Druck ist enorm.

Ein einschneidendes Erlebnis war der Tod eines Kollegen aus meiner Gruppe, der von der GIA ermordet wurde. Er hatte zwei Wochen vorher eine schriftliche Warnung erhalten, unverzüglich den Dienst zu quittieren. Eine Woche nach seinem Tod erhielt ich eine ähnliche Aufforderung. Ich meldete den Vorfall und mein Vater veranlaßte, daß ich versetzt wurde. Kurz später wurde ich einer Gruppe eingeteilt, die einen Spionageauftrag in Frankreich zu erfüllen hatte. Dies war die Gelegenheit für mich, mich abzusetzen. Da für mich ein Aufenthalt in Frankreich zu gefährlich war, aufgrund der zahlreichenden operierenden Gruppen dort, bin ich nach Deutschland gefahren, um dort Asyl zu beantragen.13

X-4 Kriegsdienstverweigerer

Da Männer, die ihren Kriegsdienst abzuleisten haben, oft mit dem Einsatz im Rahmen der Anti-Terrorismus-Bekämpfung rechnen müssen und ihren Dienst über die regulären 18 Monate hinaus auf 24 Monate verlängert sehen, geschieht es nicht selten, daß sie gar nicht erst antreten. Hinzu kommt, daß die bewaffneten Gruppen Todesdrohungen an die Männer gerichtet haben, die ihrer Einberufung nachkommen. In manchen Fällen ist diese Drohung auch in die Tat umgesetzt worden.

Im Falle einer Verweigerung regelt das Militärgesetz das Strafmaß in Artikel 254. In Friedenszeiten ist eine Strafe von drei Monaten bis fünf Jahren vorgesehen. Im Kriegsfall, d.h. auch im Falle des bestehenden Ausnahmezustandes ist eine Strafe von 2 bis 10 Jahren angesetzt. Die Bürgerrechte können dem Verweigerer für einen Zeitraum von 5 bis 20 Jahren verwehrt werden. ai schreibt, daß « die Ahndung von Vergehen gegen das Militärstrafrecht (Wehrdienstentziehung, Desertion) vom algerischen Staat derzeit in der Praxis sehr strikt und rigoros gehandhabt wird. »14 Wenn Männer, die den Kriegsdienst verweigern, zudem noch der Sympathie mit der FIS verdächtigt werden, kann die Bestrafung noch härter ausfallen, allerdings ist diese recht willkürlich und unterscheidet sich von Region zu Region.15amnesty international fügt in diesem Antwortschreiben an das Verwaltungsgericht Stade hinzu:

Die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Freiburg (514-516/15665), daß FIS-Mitglieder oder -Sympathisanten – auch ehemalige -, nicht zum Wehrdienst herangezogen werden – trotz fortbestehender Wehrpflicht bzw. ohne Angaben von Gründen aus dem Wehrdienst entlassen werden, wenn ein entsprechender Verdacht besteht, können wir nicht bestätigen.

Nach den uns vorliegenden Informationen gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, daß aktive oder frühere FIS-Miglieder oder -Sympathisanten generell nicht zum Wehrdienst herangezogen oder aus der algerischen Armee entlassen werden. Es liegt uns hierzu kein einziger dokumentierbarer Fall vor.16

Auch Kriegsdienstverweigerer sehen sich gezwungen, wenn sie ihren Einberufungsbefehl erhalten, das Land zu verlassen, wie folgender Bericht zeigt:

Fall 11

Auch meine Militärdienstverweigerung ist politisch motiviert: jedem in Algerien ist klar, daß das Militär fast ausschließlich gegen potentielle FIS-Sympathisanten, gegen den bewaffneten Widerstand bzw. gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wird, und zwar rigoros, sehr willkürlich und unberechenbar, mit viel ‘Spielraum’ durch Sondergesetze, Ausnahmezustand und Sondergerichte und wenig Kontrolle und Sanktionen. Das ist mit unserem Gewissen unvereinbar. Nur ist das Strafmaß sehr hoch: die Einschätzung entspricht der einer Desertion. Ein Jahr Gefängnis mindestens, und dann zwangsweise Militärdienst unter besonders schlechten Bedingungen, nach einem Verfahren vor dem Militärgericht.

Ich habe nach dem zweiten Einberufungsbescheid bereits illegal in Algerien gelebt, konnte aber, da Freunde von mir verhaftet und gefoltert worden waren und die Polizei meine Eltern ständig bedrohte, nicht in Algerien bleiben. Ich kann zur Zeit nicht nach Algerien zurück. Alle meine Gründe, die ich angeführt habe, sind nicht asylrelevant, werden nicht einmal als Abschiebungshindernisse zum Tragen kommen.

X-5 Allgemeine Verunsicherung

In einer Situation, wie sie seit einigen Jahren in Algerien herrscht, fürchten nicht nur Personen, die sich unmißverständlich der islamistischen oder « demokratischen » Bewegung zuordnen eine Verfolgung durch den Staat oder durch bewaffnete Gruppen. Die Lage ist – wie wir im ersten Teil darzustellen versuchten, – teilweise undurchschaubar. Personen können von unterschiedlichen Kreisen bedroht werden, nicht-identifizierbare Gruppen sorgen für Angst und Schrecken, Vergeltungsaktionen von seiten zivil gekleideter Sicherheitskräfte sind durchaus üblich, Einschüchterungskampagnen von islamistischen bewaffneten Gruppen beängstigen viele Menschen, und schließlich dürfte die Zulassung von Bürgerwehren diese Verunsicherung eher noch erhöht haben. Diese Faktoren können nicht außer Acht gelassen werden, denn auch sie treiben Menschen in die Flucht.

Es sind Asylsuchende nach Deutschland gekommen, die angegeben haben, keiner politischen Organisation angehört zu haben, keiner politischen Betätigung nachgegangen zu sein und sich dennoch bedroht zu fühlen. Dies ist aus verschiedenen Gründen verständlich: wie wir gesehen haben, greifen die Sicherheitskräfte nach einem Anschlag brutal durch und durchkämmen die Viertel. Sie nehmen willkürlich Personen fest, terrorisieren, verhören oder erschießen nicht selten Unbeteiligte. Ein sehr verbreitetes Phänomen ist die « Sippenhaft ». In diesem Zusammenhang stellte das Verwaltungsgericht Ansbach fest:

Bei den Verhältnissen, wie sie seit 1992 in Algerien herrschen, liegt es durchaus im Rahmen des Möglichen und des Wahrscheinlichen, daß auch gegen Familienangehörige von Personen, gegen die der Verdacht besteht, islamistische Fundamentalisten der FIS unterstützt zu haben, vorgegangen wird. Dieses Vorgehen der algerischen Behörden kann in sinnvoller Weise damit erklärt werden, daß diese zum einen hoffen, über Familienangehörige etwas hinsichtlich der Person herauszubekommen, gegen die sie in erster Linie einen Verdacht haben, so etwa hier hinsichtlich des Bruders des Klägers, der fünf Monate in einem Wüstenlager sich aufhalten mußte. Sie können davon ausgehen, daß sie den betreffenden Familienangehörigen möglicherweise so unter Druck setzen können, daß dieser etwas über andere Personen, insbesondere über Angehörige der Familie, den Behörden berichtet. Insofern ist es durchaus plausibel, wenn der Kläger angibt, daß er, obwohl er selber offenbar nichts gravierendes gemacht hat, zweimal in Algerien für drei bzw. sechs Monate inhaftiert worden ist. Die Maßnahmen, die der Kläger erlitten hat, sind von ihrer Schwere und ihrer Motivation her als politische Verfolgung zu werten. […] Bei einer jetzigen Rückkehr nach Algerien würde ein Risiko, erneut verhaftet zu werden, in noch gesteigerter Form bestehen. Durch die Tatsache der Ausreise aus Algerien und den Aufenthalt im Ausland hat sich der Kläger weiterhin verdächtig gemacht.17

In einem späteren Urteil desselben Gerichtes wird die Gesamtsituation in Algerien derart eingeschätzt, daß es von einer Gefährdung ausgeht, der eine allgemeine Verunsicherung zugrunde liegt:

In diesem Land besteht, und zwar in allen oder den meisten Landesteilen, derzeit eine erhebliche erhöhte Gefahrenlage. Übergriffe und Tötungen sowohl von seiten der Staatsgewalt wie auch der islamistischen Seite kommen in erheblichem Umfang vor. In manchen Gegenden und zu manchen Zeitpunkten eskalieren die Auseinandersetzungen in einem Maße, daß dies nah an eine Bürgerkriegssituation heranreicht. Es gibt keine Region in Algerien, in der derzeit ein algerischer Staatsangehöriger in völliger Sicherheit leben kann. Bei dieser Gefährdung allgemeiner Art für rückkehrende algerische Staatsangehörige ist eine Ermessenentscheidung nach § 53 Abs. 6 S.2 i.V.m. § 54 AuslG notwendig.18

Das politische Betätigungsfeld ist derart eingegrenzt worden, daß selbst Personen, die sich, obwohl sie nicht parteipolitisch organisiert sind, dennoch beispielsweise einer Vorbereitung für einen Streik gegen soziale Kürzungen anschließen, Gefahr laufen zu « verschwinden ». Uns sind mehrere Fälle bekannt von Personen, die im Vorfeld eines Streiks festgenommen und gefoltert wurden.

Eine durchaus besorgniserregende Entwicklung ist durch die Bildung der Milizen entstanden. Diese sind vor allem in den « heißen » Gegenden aktiv (Kabylei, Jijel, Chlef, Blida). Doch nicht nur die Milizen sorgen für Verunsicherung, sondern die Bewaffnung von einzelnen Zivilisten scheint immer mehr voranzuschreiten. Eine Person kann wohl relativ leicht, wenn sie nicht islamistischer Sympathien verdächtigt wird, unter der Voraussetzung, daß sie ein Formular ausfüllt und unterschreibt, eine Waffe ausgehändigt bekommen. Diese bewaffneten Personen terrorisieren nicht selten andere Zivilisten.

Hier greifen wir einen Fall auf, der von ai genaustens recherchiert wurde und der deutlich macht, wie Personen, die nicht einer politischen Strömung zugeordnet werden können, in Gefahr geraten können. Zudem ist dieses Beispiel relevant für die Beurteilung der Rückkehrgefährdung.

Fall 12

Dieser Asylsuchende gehört zu jenen Personen, die ohne ihr eigenes Verschulden zwischen die Fronten der sich bekämpfenden Parteien in Algerien geraten sind. Er war in Algerien bei einem Arbeitgeber tätig, der massiv die Islamische Heilsfront unterstützte, obwohl er selbst keine Sympathien für die bewaffneten Aktionen dieser Organisation aufbringen konnte und dies auch durch seine oppositionelle Haltung gegenüber der FIS zum Ausdruck brachte. Er mußte deshalb bei Rückkehr nach Algerien ernsthaft Repressionsmaßnahmen befürchten. Denn er war sowohl der Gefahr ausgesetzt, von den algerischen Sicherheitskräften der Sympathie oder Unterstützung für die gewalttätigen Islamisten verdächtigt, als auch von militanten Anhängern der Islamischen Heilsfront als ‘Verräter’ angesehen zu werden. Familienangehörige des Betroffenen, die seine Ankunft am 12. Juli 1994 auf dem Flughafen von Algier hinter den Zollabsperrungen erwarteten, konnten ihren Angehörigen auch nach längerem Warten nicht in Empfang nehmen, obwohl längst alle Passagiere dieses Fluges die Kontrolle passiert hatten. Sie erkundigten sich daraufhin bei der Grenzpolizei nach seinem Verbleib. Diese leugnete seine Ankunft gegenüber der Familie und ließ die Angehörigen wissen, daß er sich nicht auf der Passagierliste befunden habe.

D.M. ist seit seiner Festnahme durch die Flughafenpolizei nicht wieder aufgetaucht. Nachfragen im Oktober 1994 ergaben, daß er weiterhin als ‘verschwunden’ gilt.

Inzwischen haben wir erfahren, daß D.M. über mehrere Monate lang in verschiedenen Haftzentren in Algerien durch die dortigen Sicherheitskräfte festgehalten und brutal gefoltert wurde. Wir sind gerade dabei, seinen Fall intensiv zu recherchieren.19

 

 

1 Die Dokumentation dieser drei Fälle verdanken wir Migration, Ausländer und Deutsche auf gemeinsamen Weg e.V.

2 Rassemblement Algérien des Femmes Démocrates, eine 1993 gegründete Assoziation, die mit medienwirksamen Aktionen (Theaterinszenierung eines Tribunals gegen Islamisten, bei dem mehrere bekannte islamistische Persönlichkeiten symbolisch zum Tode verurteilt wurden, Demonstrationen, Sit-ins…).

3 François Burgat schreibt, daß viele Unternehmen in Brand gesetzt wurden, weil eine finanzielle Wertschätzung vor der Privatisierung vorgenommen werden sollte. in: Der Islamismus gegen die Intellektuellen, 42.

4 Basso-Sekretariat Berlin (Hrsg), Festung Europa auf der Anklagebank, Dokumentation des Basso-Tribunals zum Asylrecht in Europa, Münster 1995, 59.

5 Hubbel, Witze wider den Wahnsinn, die Woche, 2. Dezember 1994.

6 Dokumentierter Fall von Migration.

7 idem.

8ZDWF-Rechtsprechungsübersicht 1994.

9 Hinzu kommt, daß die Verhältnisse und Haftbedingungen in Militärgefängnissen weitaus härter sind als in normalen Gefängnissen. Auch ist des öfteren über Mißhandlungen, Folterungen der Gefangene berichtet worden. Aus der Anfrage des Verwaltungsgericht Stuttgart an ai, 2. Juli 1995.

10ai an das Verwaltungsgericht Ansbach, 16. Juni 1995.

11 Es darf nicht vergessen werden, daß nicht nur Reservisten eingezogen wurden, sondern auch « der Einsatz von 10 000 Ortspolizisten in ländlichen Gebieten […], vornehmlich für öffentliche Gebäude wie Schulen und Ratshäuser » erfolgte. An die 40 000 Gemeindepolizisten sollen rekrutiert worden sein. Auch bei diesen Personengruppen ist ai nicht bekannt, ob sie dem Militärgesetz unterliegen, allerdings geht die Organisation davon aus, daß die Desertierten in Militärgefängnissen ihre Strafe verbüßen müssen. Siehe ai an das Verwaltungsgericht Stuttgart, 2. Juli 1995.

12 Bericht vom Juli 1995, Migration.

13 Dokumentiert von Migration.

14 ai an Verwaltungsgericht Stade, 28. Oktober 1994.

15 idem.

16 idem. Uns wurde berichtet, daß der Sympathie mit der FIS verdächtige Militärs und Soldaten in ein Lager in der Wüste bei Béchar eingesperrt werden. Allerdings kennen wir keine Berichte, die diese Information bestätigen.

17 Verwaltungsgericht Ansbach, Urteil vom 10. August 1994.

18 idem, Urteil vom 8. März 1995.

19 ai, Politische Entwicklung, Menschenrechtssituation in Algerien, Algerische Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland, November 1995.

 

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