Wahlkampf im Treibsand der Macht

Wahlkampf im Treibsand der Macht

Sieben Jahre nach Abbruch des Demokratieversuchs wird in Algerien über einen neuen Präsidenten abgestimmt

Axel Veiel (Algier, Frankfurter Rundschau, 13.4.99

Sie sind wieder da. Vielleicht sind sie auch nie fort gewesen. « Was Du hier siehst, das sind Hunderte Mitstreiter der verbotenen Islamischen Heilsfront FIS, die Anfang 1992 um ihren Wahlsieg betrogen wurde. » Hakim behauptet das. Der 30jährige Handwerker, der in Algiers Stadtviertel Bab El Oued aus Bronze, Messing und Eisen Ersatzteile für Maschinen fertigt, sieht freilich nicht aus wie jemand, der seine Mitmenschen mit dem Koran in der Hand zu ihrem Glück zwingen will. Im Jeansanzug ist der Algerier in das zum Versammlungssaal umgewidmete Atlas-Kino gekommen, die Wangen glatt rasiert, das Haar kurz gestutzt und obendrein säuberlich gescheitelt.

Vielleicht hat Hakim die Zweifel bemerkt. Er beginnt von damals zu erzählen, als die FIS ihren Siegeszug antrat. 1989 sei das gewesen. Als 20jähriger sei er an den Lippen der Geistlichen gehangen, die das Ende von Filz und Korruption gepredigt hätten, die Gerechtigkeit auf Erden, die Umverteilung des Reichtums, die Rückkehr zur Moral, zum Glauben. « Heute bin ich zehn Jahre älter, aber die Botschaft ist noch immer aktuell », versichert Hakim. Was er damals gemacht hat, als die Bewegung verboten, ihre Mitglieder verfolgt, verhaftet, verschleppt wurden? « Ich habe stillgehalten und abgewartet wie so viele andere auch », sagt der Algerier. Es sei doch eine Legende, daß die Islamisten damals alle zur Waffe gegriffen hätten und in die Berge gezogen seien.

Die Menschenmassen, die noch immer in das längst brechend volle Kino drängen, scheinen beseelt von Zuversicht und Aufbruchsstimmung. Dabei ist eigentlich gar nicht viel passiert. Rabah Kebir, der im deutschen Exil lebende FIS-Führer, hat lediglich verkündet, daß die Heilsfront anders als bei all den anderen Abstimmungen seit 1992 die Präsidentschaftswahlen nicht boykottieren will. Die Gläubigen sollten am Donnerstag in Massen an die Urnen eilen und Ahmed Taleb Ibrahimi ihre Stimme geben.

Der « Docteur », wie ihn seine Anhänger ehrfurchtsvoll nennen, ist zum Hoffnungsträger der Heilsfront avanciert. Lange Zeit war der 67jährige Gelehrte nur einer neben sechs weiteren Anwärtern auf die Nachfolge des vorzeitig zurückgetretenen Staatschefs Liamine Zeroual. Man wußte, daß der staatsmännisch wirkende Taleb Ibrahimi sich bereits als Erziehungs-, Kultur- und auch Außenminister versucht hat, daß er 15 000 Bücher sein eigen nennt und durch ein geschliffenes Arabisch zu gefallen weiß. Als ein der Moderne zugewandter Befürworter islamisch-nationalistischer Werte war der Präsidentschaftsanwärter angetreten, hatte wie seine Rivalen der Versöhnung aller politischen Kräfte das Wort geredet. Platz zwei oder drei traute man ihm zu, sollte es bei der Auszählung mit rechten Dingen zugehen. Doch nun ist Taleb Ibrahimi vor allem der Kandidat der FIS.

Die Neonröhren, die von der rußgeschwärzten Decke blinken, vermögen den Ort des Aufbruchs allerdings nicht ins rechte Licht zu rücken. Im Halbdunkel leuchten nur ein paar Nummern, die ein Künstler vor Jahren einmal mit Ölfarbe an die Rückenlehnen der Stühle gepinselt haben muß, und die Kopftücher der Frauen, die in einer Ecke des Saales ihrer Vorfreude auf den « Docteur » mit Trillerlauten Luft machen. Drum herum wirkt alles düster, ärmlich, abgenutzt, abgewetzt: die Sitzbezüge nicht anders als die Jacken, Jackets und Djellabas der Männer.

Gerüchte gehen um, werden mit Applaus und Zwischenrufen quittiert. Washingtons Botschafter sei gekommen, behauptet jemand, und das Publikum klatscht und trampelt. Um den Diplomaten zu erblicken, versucht ein Greis die Armlehne seines Sitzes zu erklimmen. Die USA, die den Religiösen anderswo Inbegriff des Bösen sind, hier scheinen sie willkommene Bundesgenossen. Offenbar ist nicht vergessen, daß Washington bisweilen lauter als andere Regierungen den Dialog mit den Islamisten angemahnt hat.

Und dann gibt es kein Halten mehr. « Ali, Abassi, Taleb », schallt es aus Hunderten von Kehlen. Die ersten beiden, die Heilsfrontführer Ali Benhadj und Abassi Mandani, können für die Versammelten wenig tun. Der eine sitzt im Gefängnis, der andere steht unter Hausarrest. Aber der dritte, Taleb Ibrahimi, er betritt soeben die Bühne. « Allah Akbar », grüßt er leise, fast schmeichelnd und verkündet ein letztes Mal vor den Wahlen am Donnerstag öffentlich sein Credo.

Er plädiert für die Aussöhnung und den Dialog aller Algerier, soweit sie der Gewalt abschwören und die Verfassung achten. « Einen modernen Staat » wünscht sich Taleb Ibrahimi, der « seine islamischen Wurzeln nicht verleugnet ». Eine Alte mit Kopftuch und weitem Umhang streckt dem Hoffnungsträger ein Foto ihres Sohnes entgegen, eines FIS-Anhängers, der nach seiner Verhaftung verschwunden ist. « Allah Akbar », schwellen die Sprechchöre wieder an. Es dauert einige Zeit, bis der Kandidat auch noch etwas zur Gerechtigkeit und Umverteilung des Reichtums sagen kann. Gas, Strom und Wasser sollen billiger werden, fordert Taleb Ibrahimi. Hakim beugt sich herüber: « Das ist wie damals, Anfang der 90er Jahre. »

Aber das stimmt nicht ganz. Damals gab es klarere Fronten: Hier eine nach Jahrzehnten der Einparteienherrschaft im Ruche von Vetternwirtschaft, Korruption und hemmungsloser Selbstbereicherung stehende Staatsmacht, dort der politische Gegner, die Heilsfront, die Enttäuschte und Entrechtete, Arbeitslose und Arme um sich scharte. Inzwischen aber haben die Machthaber die religiöse Bewegung, die sie nicht zu bezwingen vermochten, geschickt gespalten, einen Teil integriert, in die Regierungsarbeit eingebunden und den Rest ausgegrenzt. Wie Taleb Ibrahimi pflegen auch die anderen Kandidaten den religiösen Diskurs, versuchen mit nationalistischen Tönen zu verführen.

So hat etwa der als Favorit gehandelte Präsidentschaftsanwärter Abdelaziz Bouteflika, der sich nicht nur des Rückhalts der vier Regierungsparteien, sondern offenbar auch noch eines Großteils der Armeeführung erfreut, den Polizisten Mustapha überzeugen können. Der schmächtige Beamte sitzt in Jeans und Lederimitatjacke an der Theke einer Pizzeria und läßt seinen Blick über die Posterlandschaften schweifen: über Fische und Korallen, eine Schweizer Alm und einen zwischen Blumenrabatten dahinplätschernden Bach. Mustapha zückt sein Adressbuch, das auch als Poesiealbum herhalten muß. « Habe den Mut, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen », liest der Besitzer aus seinem Zitatenschatz vor.

Was wie ein Aufruf zur Rebellion im Namen Allahs klingt, versteht der 24jährige als Appell, « denjenigen zu dienen, die Algerien lieben » sowie den Eltern und fünf Geschwistern zu helfen, mit denen er eine Drei-Zimmer-Wohnung teilt und denen er einen Teil seines Monatslohns von 14 000 Dinar (400 Mark) überläßt. Nicht weil ihm der Staat ein Auskommen sichere, werde er den als « Kandidat der Macht » geschmähten Bouteflika wählen, sagt Mustapha, sondern weil dieser « brillante, kluge, gläubige Mann die Nation im Herzen » trage. Daß er arbeitslos werden könnte wie ein Drittel seiner Altersgenossen, nun, da die Terroristen aus den großen Städten des Landes vertrieben scheinen, glaubt Mustapha nicht: « Die Islamisten halten aus taktischen Gründen still. »

Was in diesen Tagen allerdings durchaus an die Jahre des demokratischen Aufbruchs erinnert, ist die im arabischen Vergleich beeindruckende Vielfalt der Stimmen. Da verlangt die Trotzkistin und Chefin der Arbeiterpartei Louisa Hanoune den Erhalt der Staatsunternehmen, während der Wirtschaftsreformer und Präsidentschaftsanwärter Mouloud Hamrouche das Gegenteil fordert und obendrein eine Katastrophe ankündigt, sollte der Staat versuchen, den Wählerwillen zu verfälschen. Die jedweden Ausgleich mit den Islamisten ablehnende « Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie » RCD beklagt, daß die jahrelang mit Feuer und Schwert bekämpften Religiösen nun womöglich durchs Hauptportal in den Präsidentenpalast einziehen. Derweil feiern die Sozialisten der FFS die Wiederkehr ihres Chefs und legenderen Befreiungshelden Hocine Aït Ahmed und die Chance eines « wirklichen Wandels ».

Während sie alle freilich nur für irgendeinen Ausschnitt der so zerrissenen algerischen Gesellschaft sprechen können, präsentiert sich Bouteflika geschickt als Vater der Nation. Bei der Abschlußkundgebung des Kandidaten in Algier scheint aus dem Umfeld des Staates alles aufmarschiert, was Rang und Namen hat. Von der Vereinigung der Widerstandskämpfer über die Gewerkschaft UGTA bis hin zu Jugendverbänden, alle spenden sie organisierten Beifall. Den Argwohn, Bouteflika sei der Kandidat der Mächtigen, dürfte das kaum zerstreuen. Hakim zeigt sich von den Bataillonen des Favoriten wenig beeindruckt. « Das mag alles sehr schwer, sehr gewichtig aussehen », meint er. « Aber wir von der Heilsfront sind wie Treibsand, in dem die Machthaber irgendwann versinken werden. »